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Außenseiterin. Cindy (Julia Jendroßek) ist die Heldin von „Schönefeld Boulevard“, der ab Donnerstag in den Kinos läuft.

© Claudia Rorarius

Sylke Enders über "Schönefeld Boulevard": Eigentlich brauchen sich doch alle

Die Berliner Regisseurin Sylke Enders ist Spezialistin für widersprüchliche Figuren. Ein Gespräch über ihren neuen Film „Schönefeld Boulevard“.

Ihr Vater nennt sie „Rosinenbomber“. Cindy, 18, Locken, voluminöser als andere Teens, lebt mit ihren grantigen Eltern in Schönefeld, wo die Uhren genauso stillstehen wie die Arbeit am BER-Milliardengrab in der Nachbarschaft. Doch das Mädchen, das in der Schule gemobbt wird, und nur eine einzige Freundschaft zu einem schwierigen jungen Mann pflegt, entdeckt eines Tages seine Anziehungskraft auf fremde Männer. Als sie erst einen Finnen und dann einen Koreaner erobert, versetzt das Cindys Umfeld in Erstaunen.

„Es geht mir immer um die zwischenmenschlichen Grabenkämpfe“, sagt die Regisseurin und Autorin von „Schönefeld Boulevard“, Sylke Enders. „Um Ängste, um Status, egal, ob man zu zweit ist oder in einer Gruppe“. Enders sitzt pünktlich, wach und gutgelaunt in einem Café in Mitte, nicht weit von zu Hause, wo der zehnjährige Sohn wartet, der heute krank ist. Enders, Jahrgang 1965, kommt aus Brandenburg an der Havel, und hat nach einem Soziologiestudium in Berlin und ein paar Jahren Regieassistenz und Continuity Regie an der dffb studiert. Für ihren Debütfilm „Kroko“ von 2004, in dem die gleichnamige wasserstoffblonde 17-jährige Hauptfigur ihre Weddinger Hinterhofclique tanzen lässt wie Marionetten, wurde sie mit dem Deutschen Filmpreis in Silber ausgezeichnet. Cindy ist im gleichen Alter wie Kroko, und dennoch ganz anders. Beide passen weder in die Teenager-, noch in die Frauenklischeekiste.

Ihre Freunde nennen sie "Bohrmaschine" - wegen der vielen Nachfragen

„Ich wollte eine Heldin haben, die trotz ihrer Figur nicht dem gängigen Opferbild entspricht“, sagt Enders mit ihrer dunklen Stimme. „Keine Milieustudie“ habe sie entwerfen wollen, „sondern eine lebensbejahende Figur, an der einfach einiges abprallt, die nicht gleich geschwächt wird, wenn sie Gegenwind bekommt“. Braucht es denn auch besonders viel Selbstsicherheit und Dickköpfigkeit, um eine solch ungewöhnliche Heldin durch die vielen Förderinstanzen durchzuboxen, die ein kleiner deutscher Film durchlaufen muss? „Na ja“, sagt Enders, und schüttelt die Locken, „ich glaube nicht, dass ich das immer ausstrahle. Das würde ja auch bedeuten, dass ich meine Arbeit schon vorab über den Klee loben müsste, das kann ich nicht.“ Stattdessen, erzählt Enders, hole sie sich gern von allen möglichen Beteiligten Kommentare ein. „Wenn wir im Schnitt unsicher sind, frage ich auch mal einen Praktikanten. Ich lasse mich eben gern mit anderen Meinungen bereichern!“ Sie lacht. „In meinem Bekanntenkreis nennt man mich ‚die Bohrmaschine’, weil ich immer weiter nachbohre ...“

Nachdem sie genug gebohrt, recherchiert und drüber nachgedacht hat, bringt sie die Disziplin auf, das Gehörte aufzuschreiben – ein weiterer Musenkuss, ist nicht nötig. Pragmatismus und Bodenständigkeit scheinen ihr angeboren: „Wenn ich eine fünfzigminütige Zugfahrt vor mir habe, klappe ich den Computer auf, und schreibe die Seite voll.“ Zu Hause sei sie ansonsten eher chaotisch, gibt sie zu, vielleicht „weil die Energie für Struktur schon für die Drehbücher draufgeht?“

Manchmal geht es beim Filmen vor allem um Machtspiele, sagt Enders

Außenseiterin. Cindy (Julia Jendroßek) ist die Heldin von „Schönefeld Boulevard“, der ab Donnerstag in den Kinos läuft.
Außenseiterin. Cindy (Julia Jendroßek) ist die Heldin von „Schönefeld Boulevard“, der ab Donnerstag in den Kinos läuft.

© Claudia Rorarius

Angst vor ihrem Beruf empfand Sylke Enders nie. Sie verfügt über den nötigen langen Atem, den man auch Hartnäckigkeit nennen könnte. Als die eine Filmhochschule sie nicht annahm, bewarb sie sich an der nächsten. Bis es schließlich an der dffb klappte. „Bei meiner ersten Förderung in Hamburg, das war noch vor meinem Regiestudium“, erzählt Enders, „da sagte ich: Egal, was Sie mir jetzt gleich mitteilen – ich mache sowieso weiter!“.

Die Leidenschaft für das szenische Erzählen, das mit einer Kamera gestaltet und festgehalten wird, brannte bereits früh in Enders Leben: „Ein enorm wichtiger Film war Konrad Wolfs ,Professor Mamlock’, den musste ich sofort nach dem Anschauen aufschreiben, mit einem Buntstift auf eine Karteikarte, weil der mich so bedrückt hat“, erzählt sie. Mit elf Jahren schrieb sie ihr erstes Drehbuch – eine der Locations war der Pferdestall der Großeltern. Es ging um ein Mädchen namens Benny Fox, das den Tod ihrer Eltern rächt, indem es die Mörderbande unterwandert! Realisiert werden sollte die Geschichte als Fotostory – „was anderes hatten wir ja nicht“.

In ihren frühen Zwanzigern hat Enders angefangen, tatsächlich zu drehen „gleichzeitig mit Super 8 und Video“, sie hat die Kinder im Dorf ihrer Großeltern verkleidet, mit ihnen Actionfilme inszeniert, und versucht, eine eigene Bildsprache zu finden. „Jim Jarmusch hatte mich inspiriert, ich habe schwarz-weiß gedreht, und das ergab eine tolle Struktur, wenn die Kinder da alle nebeneinander mit Sonnenbrille auf dem Acker lagen.“ Es ging ihr auch damals schon um die inneren Konflikte, darum „das größte Leid und die größte Freude nebeneinander zu zeigen. Eigentlich brauchen sich doch alle, aber sind unfähig, das zu sagen.“ Als einen ihrer Lieblingsautoren nennt sie passend dazu den amerikanischen Experten für Kindheitstraumata Harold Brodkey. „In den bin ich verliebt“, behauptet Enders lakonisch. Durch ihn habe sie „zum ersten Mal erfahren, in welche emotionalen Abgründe Menschen sich begeben“.

Abgründe können sich auch bei ihrer Arbeit als Regisseurin auftun, erzählt Enders weiter, und berichtet von einer Übung auf der Filmhochschule, bei der man den Schauspielern „alle möglichen Arten von hässlichen Fragen stellen sollte, um sie zu verwirren, um starke Reaktionen herauszukitzeln“. Sie sei manchmal gerade von denen beeindruckt gewesen, die sich geweigert hätten, da mitzumachen. „Das war mir sehr sympathisch. Für mich ist es total wichtig, dass jemand genug Selbstachtung hat, um eben nicht alles mitzumachen. Ich bin mit denen auf Augenhöhe, ich will ja jemanden haben, der Freigeist ist!“

Stress sei das Filmen schon, sagt sie. Mitunter ginge es vor allem um Machtspiele. „Aber ich spreche alles aus“, sagt sie, und man glaubt es ihr sofort. Die hinter dieser Aussage verborgene Ehrlichkeit schlägt sich in den Filmen nieder, und in deren Protagonisten: Ob die kühle Kroko, die irgendwann doch lächelt; Alex aus „Mondkalb“ von 2008, die eine Beziehung mit einem gewalttätigen Vater-Sohn-Gespann eingeht; ob der Hausmann Peter aus dem Beziehungsdrama „Du bist dran“ von 2013, der nicht länger zurückstecken will, oder eben Cindy – sie sind widersprüchlich genug, um nachvollziehbar zu sein.

Der Kaffee ist fast kalt geworden. Klaglos kippt Sylke Enders ihn trotzdem runter, guckt endlich mal auf ihr Handy, und erschrickt: „Oh Gott!“ Wenig später sitzt sie auf dem Fahrrad, rast die Straße hinunter. Und hinterlässt eine Energiespur.

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