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"Die Ideale sind ruiniert, rettet die Ruine". Nach diesem Motto wurde das Tacheles 1990 von Künstlern besetzt. Jochen Sandig war vom ersten Tag an mit dabei.

© Kai Uwe-Heinrich

Tacheles for Future: Wenn aus dem apokalyptischen Höllenschlund eine Glitzerwelt wird

Ein Einkaufszentrum dort, wo Küster ein utopisches Selbstexperiment starteten? Bitte nicht, schreibt Tacheles-Gründer Jochen Sandig. Hier sein Gegenvorschlag.

Unser Autor Jochen Sandig ist Mitbegründer des Tacheles, ebenso hat er Sasha Waltz & Guests, die Sophiensäle und das Radialsystem mit initiiert. Mit seinem Gastbeitrag mischt er sich in die Debatte um die Umwandlung des Tacheles in ein neues Einkaufs- und Wohnareal ein.

Zukunft ist die Zeit, die der Gegenwart nachfolgt. Mit „HOW LONG IS NOW?“ befragt eines der berühmtesten Berliner Wandgemälde das Jetzt. Und genau hier beginnt jetzt die Zukunft. Mit der Grundsteinlegung für das „Areal am Tacheles“ wurden vor wenigen Tagen auf einem der letzten großen unbebauten Brachflächen im Zentrum Berlins die Weichen gestellt.

Als einer der Gründer und Namensstifter des Kunsthauses in der Kaufhausruine der historischen Friedrichstraßenpassage nehme ich dies als Stein des Anstoßes, um selbst Tacheles zu reden. Ich bin überrascht, wie bei mir ein 30 Jahre alter Mythos immer noch intensive Erinnerungen und utopische Visionen wecken kann, vor dem Hintergrund tiefer Sorgen, in welche Richtung wir uns als Weltgemeinschaft gerade bewegen.

In meiner Erinnerung taucht eine Begegnung mit Julius Posener Anfang der Neunzigerjahre vor dem Palast der Republik auf, anlässlich einer öffentlichen Diskussion zum Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses. Dieser kluge Mann wurde nie müde, die Langsamkeit von Demokratieprozessen im Städtebau zu loben, und warnte vor allzu schnellen Entscheidungen. Ja, wir sollten nie aufhören, immer wieder Stadt neu zu denken und dabei auch zukünftigen Generationen genügend Räume zur Potenzialentfaltung zu überlassen.

Dieser Palast ist Geschichte, an seine Stelle tritt das Humboldt Forum im historischen Schlossgewand. „ZWEIFEL“, so leuchtete es einmal in großen Lettern auf dem Dach des Palasts der Republik kurz vor seinem Abriss. Wollte der Künstler Lars O. Ramberg damit Berlin provozieren, die eigene Selbstgewissheit immer wieder zu hinterfragen?

Der Eingang, früher ein Höllenschlund, jetzt ein prächtiges Portal?

Vor meinem geistigen Auge sehe ich diese temporäre Installation wieder aufscheinen auf dem Dach des Tacheles im Berliner Nachthimmel. Aber auch „HOW LONG IS NOW?“ wird bald verschwinden, wenn ein neues Gebäude direkt am Tacheles Anschluss findet. Der berühmte Torbogen wird dann als Reminiszenz der Vergangenheit wieder als prächtiges Eingangsportal in die Passage einer schönen neuen Einkaufs- und Wohnwelt führen. Früher wirkte dieser Eingang eher wie ein apokalyptischer Höllenschlund.

Für den Masterplan des enormen Bauprojekts und der Sanierung des Tacheles als Herzstück haben die Investoren von Aermont und Perella Weinberg Real Estate das Architekturbüro Herzog & de Meuron aus Basel gewonnen. Mit der Tate Modern London und der Elbphilharmonie Hamburg haben Jacques Herzog und Pierre de Meuron erfolgreiche Transformationen bestehender Bauten zu neuartigen Kulturinstitutionen realisiert.

"Die Ideale sind ruiniert, rettet die Ruine", so das Motto von damals

Das Tacheles ist ein Sonderfall, denn die eigentliche Transformation liegt bereits 30 Jahre zurück und ist symbolhaft mit der Wiedervereinigung Berlins verknüpft. „Die Ideale sind ruiniert, rettet die Ruine“, das war das Motto, als am 13. Februar 1990, wenige Wochen nach dem Fall der Mauer die letzten Reste der 1907 errichteten Friedrichstraßenpassage von einer internationalen Künstlergruppe einem bunten Haufen Kreativer aus Ost und West und allen Regionen der Welt besetzt wurden, um die geplante Sprengung der Ruine zu verhindern.

Ich war vom ersten Tag an mit dabei. Wir gründeten in Windeseile den Verein Tacheles e.V. und durch einen Coup am Runden Tisch im Roten Rathaus konnten wir im April 1990 den Abriss verhindern, indem wir die gesamte Spandauer Vorstadt zum Flächendenkmal erklärten. So wurde auch das Tacheles unter besonderen Denkmalschutz gestellt.

Schon in den ersten Tagen der Besetzung hat sich die DNA des Tacheles herauskristallisiert, die dem Projekt noch bis zu seiner Schließung 2012 eingeschrieben waren und bei der Entwicklung einer zukünftigen kulturellen Nutzung des Gebäudes eine wichtige Rolle spielen sollte, wenn der Name weiterhin den Ort markieren wird.

Die Wendung Tacheles reden (jiddische Bezeichnung für ‚Klartext') bedeutet: direkt die unverblümte Wahrheit sagen; Klartext reden; ein heikles Thema ansprechen; offen und deutlich reden. Als ich die Idee hatte, unser Projekt so zu nennen, bezogen wir uns auch auf die ehemalige jüdische Vergangenheit des ganzen Viertels, wovon heute noch die Synagoge in der Oranienburger Straße zeugt.

Jochen Sandig gründete das Tacheles mit, ebenso das Radialsystem.
Jochen Sandig gründete das Tacheles mit, ebenso das Radialsystem.

© promo

Schon nach wenigen Wochen kam es mir vor, als hätten wir einen Weltraumbahnhof in einem Science-Fiction- Film eröffnet. Der historische Bezirk Mitte wurde wieder zur Mitte Berlins und jeden Tag strömten Menschen aus der ganzen Welt in das neue Quartier, um selbst Teil des historischen Ereignisses des Wandels zu werden.

Das Tacheles war ein großes utopisches Sozialexperiment

Alle zog es nach Berlin, sie kamen aus New York und Paris, London und Warschau, Sydney und Tokyo, Amsterdam und Barcelona, Budapest und Prag, Kopenhagen und Helsinki, Marseille und Madrid, Athen und Rom. Alle wollten die frische Berliner Luft der Freiheit atmen und selbst Teil einer großen sozialen Skulptur werden. Wir waren immer offen für neue Mitglieder, wenn sie wirklich aktiv mitmachten. Es war ein großes utopisches Sozialexperiment, wir konnten die Regeln täglich neu erfinden. Die DDR war weg und ein neues System war noch nicht etabliert. Wir organisierten uns basisdemokratisch mit einem Montagsplenum, auf dem Aufgaben verteilt und Konflikte gelöst wurden.

Bereits in der ersten Woche wollte jemand den Haupteingang zumauern, um das Gebäude vor möglichen Angriffen durch Rechtsradikale zu schützen. Die Mehrheit wollte zum Glück kein Tacheles mit Zugbrücke, sondern eines, das Besuchern immer offen stand, im Idealfall rund um die Uhr und bis früh in den Morgen. Am 3. Oktober 1990 eröffnete im Keller einer der ersten Berliner Technoclubs, die Ständige Vertretung, deren Original um die Ecke am selben Tag für immer geschlossen wurde.

Was braucht Berlin heute? Freiräume, ein Labor für Zukunftsfragen

"Die Ideale sind ruiniert, rettet die Ruine". Nach diesem Motto wurde das Tacheles 1990 von Künstlern besetzt. Jochen Sandig war vom ersten Tag an mit dabei.
"Die Ideale sind ruiniert, rettet die Ruine". Nach diesem Motto wurde das Tacheles 1990 von Künstlern besetzt. Jochen Sandig war vom ersten Tag an mit dabei.

© Kai Uwe-Heinrich

Der wichtigste Kern der Tacheles Idee war die Interdisziplinarität und Vielfalt der Menschen und Ideen. Es ging uns nicht um ein monothematisches Kunsthaus für Bildende Kunst, Musik oder Tanz. Es entstand ein spartenübergreifender Möglichkeitsraum, in dem sich alle Künste befruchten konnten. In diesem Sinne war das Tacheles einer der ersten Prototypen eines Coworking-Space in Berlin. Es war nur eine Frage der Zeit, bis alles in sich zusammenbrach.

Die Frage ist: Was kommt jetzt? Was braucht Berlin heute, 30 Jahre nach dem Mauerfall? Wir stellen fest, dass freie Räume in Berlin und überall auf der Welt verschwinden, so wie das ewige Eis schmilzt, vor allem in großen Städten wie New York, London und Paris. „Die Ideale sind ruiniert, rettet die Ruine.“ Was kann dieser Satz heute bedeuten. Haben wir nicht längst die Welt ruiniert? Jetzt geht es nicht mehr um die Rettung eines einzelnen Gebäudes. Es geht um die Erde als Ganzes, unser Ökosystem.

Ich habe einen Traum: Lasst uns einen Raum schaffen im Herzen Berlins, indem Resonanz möglich ist, als Labor für Zukunftsfragen. Gerade heute brauchen wir Räume des Nachdenkens, des Experiments, der Begegnung und der gesellschaftlich-künstlerischen Interaktion, der „Resonanz“, wie sie Hartmut Rosa in seiner „Soziologie der Weltbeziehung“ beschreibt.

Dem Tacheles der ersten Stunde, bevor es kommerziell und touristisch wurde, war genau diese idealistische Vision eingeschrieben. Das ist gewiss eine Utopie, aber wir leben in so verrückten Zeiten, wo es auf große Transformationen ankommt. Selbst der Regierende Bürgermeister Michael Müller sagte vor Kurzem auf einer Veranstaltung: „Wir müssen uns die freien Räume zurückerobern.“

Jede Zukunftsgeneration braucht Räume zur Entfaltung

Schön, und wer soll das machen? Wir sehen eine wütende, aber auch erfindungsreiche Generation, die sich um ihre Zukunft betrogen fühlt. Wie wäre es, wenn wir den heute 20- bis 30-Jährigen einen Raum im Zentrum Berlins zur Verfügung stellen, wo die großen Fragen der Gegenwart und der Zukunft wie unter einem Brennglas künstlerisch-kreativ behandelt werden können, mit wechselnden internationalen Akteuren und Aktivisten. Nachhaltigkeit und Demokratie müssen mit Kunst als Dreiklang zusammengedacht werden. Dafür bildet das Tacheles den perfekten Rahmen.

1990: Wir waren jung und wollten die Welt erobern. 2020: Die Generation Fridays for Future ist jung und möchte die Welt retten. Jede Zukunftsgeneration braucht diese Räume der Entfaltung, von denen Julius Posener sprach. Sie erinnern uns daran, teilweise schmerzhaft, dass die Zukunft keineswegs selbstverständlich ist. Diese weltweite Bewegung, die von der Jugend ausgeht, erinnert uns an die Zeiten der Bürgerbewegungen von 1968 und 1989. Sie stellen dabei die Grundfrage unserer Existenz: Wie verhindern wir den point of no return?

Jochen Sandig gründete das Tacheles mit, ebenso das Radialsystem.
Jochen Sandig gründete das Tacheles mit, ebenso das Radialsystem.

© promo

Diese Vision wird nur gelingen, wenn auch die Eigentümer über ihren Schatten springen, sich von der Idee anstecken lassen und mithelfen, das Projekt als eine gemeinnützige Tacheles Foundation neu in einer zukunftsweisenden Public Private Partnership aus der Taufe zu heben, in der sich alle für ein gemeinsames Ziel einbringen: der Investor, die öffentliche Hand, die Non-Profit-Organisationen und die Individuen der Gesellschaft.

Alle bisherigen Überlegungen zu einer neuen Nutzung des Tacheles sind ja gescheitert, weil es bisher meistens um Partikularinteressen ging. Jetzt ist die Zeit für einen dritten Weg. Alle werden schließlich davon profitieren, und das „Areal am Tacheles“ würde seinen Namen zurecht tragen, weil ein Herz der Zukunft in seinem Zentrum pulsiert.

Für Heiner Müller war es das Symbol des wiedervereinigten Berlins, er empfand das Tacheles als ein wirkungsvolleres Wahrzeichen als das Brandenburger Tor. Und wofür s könnte das Tacheles 2020 stehen, 30 Jahre nach seiner Gründung? Für die Freiheit, aber auch für eine Zukunft, die wir nur gemeinsam gestalten können.

Jochen Sandig

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