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Kultur: Tagebuch eines Tatenlosen

Frankfurt erzählen: Andreas Maiers dritter Roman „Kirillow“

Wer einmal den Großen Feldberg erobert hat, jene stattliche Erhebung im Nordwesten Frankfurts, dem wird die Landschaft plötzlich überschaubar. Im Abstand von wenigen Kilometern gleiten die Maschinen auf den Rhein- Main- Flughafen zu. Die einzelnen Orte mit ihren Industriegebieten sind umringt von Autobahnen, Zubringern und Umgehungsstraßen, die allesamt in der Stadt zu münden scheinen. Zahllose Autos und Lastwagen verleihen dem Bild die nötige Bewegung. Dazwischen dehnen sich die Felder der landwirtschaftlichen Betriebe, fein parzelliert und mit Grenzbüschen versehen. So weit das Auge reicht, ein einziger Kreislauf aus Handel und Verkehr.

Dort unten hat es sich auch der Schriftsteller Andreas Maier behaglich eingerichtet. Als habe er all jene Kritiker ein wenig ärgern wollen, die ihn nach seinen ersten beiden Büchern „Wäldchestag“ und „Klausen“ etwas vorschnell in die Ecke eines Heimatautors unter philosophischen Vorzeichen gestellt hatten, lässt er seinen neuen Roman in Frankfurt spielen. Nicht mehr die Dorfbewohner der hessischen Provinz erfasst sein erzählerischer Blick nun, sondern die Besucher der Universität, nicht mehr die Enge eines Südtiroler Alpentals, sondern das städtische Milieu. Doch die Strukturen des Sprechens sind in all diesen Welten dieselben. Hier wie dort herrscht das Gerede, ein Geflecht aus Meinungen, Erfindungen und kleinen Lügen, das so etwas wie Erkenntnis unmöglich macht. Das ist von jeher Andreas Maiers Thema gewesen, daran hat sich in „Kirillow“ nichts geändert. Nur tastet er diesmal entschlossener nach einem Jenseits des Gerüchts. Wie kann man sich dem allgemeinen Gerede entziehen, lautet die große Frage des Romans. Sie wird zu einer Aufgabe für die Figuren – und zu einem Problem des Erzählens.

Wie schon in „Wäldchestag“ hat Maier seinen Text aus drei massiven Blöcken gebaut. Gleich zu Beginn des ersten Abschnitts entrollt er die Ansichten und kleinen Philosopheme jener Figuren, die der Leser fortan in ihren Denk- und Gefühlsbewegungen begleiten wird. Da gibt es Frank Kober, einen ehemaligen Studenten und Weltenbummler, der mit seinen nicht einmal 30 Jahren schon weise ist: „Ich finde keine ,wahren Sätze‘, ich suche sie nicht einmal. Allerdings hat Wahrheit mit Sprache überhaupt nichts zu tun. Übrigens sind alle diese Gedanken vollkommen lächerlich“. All die „Schlachten“, die Kober bereits hinter sich hat, durchlebt der junge Julian Nagel mit dem ganzen Körper. Voll Bewunderung für den schweigsamen Kober gibt er sich doch am liebsten lauten Disputen und dem Alkohol hin. Trotzdem spricht er jene Überzeugungen aus, die auch für seine Schwester Anja, den Revoluzzer Jobst und einige russische Freunde bestimmend sind. Die Menschen, so Julian, hätten sich eine Rhetorik geschaffen, in der ihr grundloses Handeln geradezu logisch und wertvoll erscheine.

Wenn die Welt aber nichts als ein rhetorisches Gebilde ist – wie kann da so etwas wie Sinn noch seinen Platz finden? „Was wirst du tun? Wirst du etwas tun?“ wird Julian einmal auf einer Party gefragt, ausgerechnet von einem jener Politiker, die er für die umfassende Verkehrung verantwortlich macht. Dieser Stachel sitzt tief. Der erste Versuch einer wirklichen Tat bleibt aber folgenlos. Das „Geschehen“, eine provokante Selbstverletzung Kobers, wird so lange im allgemeinen Gerede hin und her gewendet, bis es sich aufgelöst hat. Später hält Julian ein Plädoyer für den Selbstmord als „einzig möglicher Tat“ oder randaliert nachts in einem Wohnviertel, zuletzt wird die Gruppe an den Protesten gegen die Castortransporte im Wendland teilnehmen. Doch alle Anläufe zu einer echten Handlung verlieren ihre anfängliche Kraft. Auch wenn es für diese Einsicht der pompösen Rekurse auf Dostojewski oder Hobbes gar nicht bedurft hätte, bestimmt sie zweifellos das ganze Buch: Eine Tat jenseits von Fortschritt, Zeit und Wachstum scheint nicht möglich – „die Katastrophe war elementar.“

Andreas Maier ist ein kluger Autor. Er weiß sehr gut: Ist das Gerede tatsächlich lückenlos, darf auch der Erzähler keinen Platz außerhalb davon beanspruchen. Maiers bisherige Romane waren unlösbare Knäuel aus zahllosen Stimm- und Geräuschfäden, und der ganze Text entpuppte sich am Ende seinerseits als Rede einer Figur. Dem Anfangskapitel von „Kirillow” hat er nun ein kleines Vorspiel vorangestellt, das genau dem Muster des endlosen Murmelns und Quakelns folgt. Aber sein „Prolog in der Hölle“ mündet in einem entschlossenen Abgesang auf diese Art des Schreibens. Andreas Maier will nun richtig erzählen.

Immer noch markiert er manche Szenen als Berichte von Figuren, immer noch benutzt er recht plump die Floskel „etcetera“ und wiederholt bewusst Klischees. Doch fährt er die indirekte Rede stark zurück, er entwirft nun eigene Charaktere und versucht sich an Naturbildern. Es gibt sogar vereinzelt Absätze in seinen Textmonolithen. Das alles versteht Maier mit seinen kurzen, klaren Sätzen geschickt auszubreiten. Auch wenn die verschachtelten und die atmosphärischen Abschnitte nicht immer so recht vermittelt sind, lässt man sich als Leser von der Beschreibung mancher Frankfurter Wohnung mitsamt ihren Kakteen und verschmutzten Fenstern gerne überzeugen.

Leider jedoch hat sich Maier bei dem Entwurf seines Erzählers von der Sehnsucht der Figuren nach einem Ort außerhalb des Geredes anstecken lassen. Dieser Erzähler blendet sich immer wieder direkt in das Textgefüge ein, manchmal in Klammern, manchmal in ganzen Absätzen. Er kommentiert, verbessert und weiß stets, was sich „tatsächlich“ irgendwo ereignet hat. Kurzum: Er ist genau die moralische Instanz, die es nach der Logik der erzählten Geschichte gar nicht geben dürfte. So stolpert Andreas Maier mit seinem dritten Roman zuletzt über jene andere elementare Katastrophe, die auch seinen Figuren zum Verhängnis wird: die Inkonsequenz.

Dieses Buch bestellen Andreas Maier: Kirillow. Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 351 S., 19,80 €.

Nico Bleutge

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