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Die britische Schauspielerin Vanessa Kirby ist dieses Jahr mit zwei Filmen im Wettbewerb von Venedig dabei.

© Filmfestival Venedig

Tagebuch von den Filmfestspielen Venedig (3): Miss Marx tanzt Pogo

Frühbuchermentalität verschafft Vorteile und zwei große Frauendramen im Wettbewerb: der dritte Tag in Venedig.

Von Andreas Busche

Dass in diesem Jahr in Venedig alles ein wenig anders ist, merkt man auch beim abendlichen Restaurantbesuch. Selbst in die angesagten Etablissements kann man im Prinzip einfach reinspazieren, Tische sind in den den Außenbereichen scheinbar immer verfügbar. Abseits des Festivalgeländes nimmt es dann auch keiner mehr so genau mit dem Social Distancing – spätestens bei der zweiten Flasche Weißwein.

Man spürt in Venedig den Nachholbedarf nach der Rückkehr aus der Homeoffice/Netflix-Blase. Wobei das Socializing in diesem Jahr dank des Online-Buchungssystems zusätzlich erschwert wird. Es bedarf schon einer gemeinschaftlichen Anstrengung innerhalb der Peer Group, um einen Film im selben Kino zur selben Zeit zu sehen.

Und am Ende ergattert man doch nur noch Plätze an den gegenüberliegenden Seiten des Saals. Im elitären Cannes entscheidet die Akkreditierung über den Zutritt zu den begehrten Vorführungen, in Venedig sind dieses Jahr die mit Frühbuchermentalität im Vorteil; eigentlich ja eine deutsche Eigenschaft.

Aber das sind Luxusprobleme, Klagen sind in den ersten Tagen kaum zu hören – auch nicht über den Wettbewerb. Man hat sich an das neue System schnell gewöhnt. Nur was bedeutet Venedig eigentlich für die Zukunft der Festivalkultur? Der Lido gilt in der Branche als Teststrecke. Und man fragt sich schon, wie das im Februar auf der viel größeren und dezentraler organisierten Berlinale umgesetzt werden soll. Die Biennale jedenfalls ist in diesem Jahr mehr denn je eine Insel.

Drama mit Körpereinsatz

Apropros Wettbewerb: Dass in diesem Jahr weniger Stars nach Venedig kommen, bedeutet nicht, dass auf Starkino verzichtet werden muss. Kornél Mundruczcòs englischsprachiges Debüt „Pieces of a Woman“ erfüllt die Kriterien in doppelter Hinsicht: nominell (produziert hat Martin Scorsese, in den Hauptrollen spielen Vanessa Kirby, Shia LaBeouf und Ellen Burstyn), und in der Art und Weise, wie der ungarische Regisseur seine beiden Hauptdarsteller inszeniert.

LaBeouf hat den leichteren Part, er spielt inzwischen ja fast nur noch sich selbst. Aber wie hier sein physischer Einsatz an der emotionalen Mauer von Vanessa Kirby abprallt, ist einfach sehenswert.

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LaBeouf und Kirby spielen ein Ehepaar, das am Tod ihres Babys zu zerbrechen droht. Sie zieht sich immer mehr zurück, ihm fehlen die Worte. Doch Psychologie interessiert „Pieces of a Woman“ nicht. Worum es Mundruczcò geht, der den Film mit seiner Partnerin Kata Weber geschrieben hat, etabliert er gleich zu Beginn in einer 20-minütigen Geburtsszene. „Pieces of a Woman“ steht in der Tradition von Douglas Sirks Melodramen: immer nah am Kitsch, dabei von einer Rohheit, die sich stellenweise übergriffig anfühlt.

Sozialistin, Feministin, Tochter

Wie man ein Frauendrama auch zwei Nummern kleiner wirkungsvoll inszenieren kann, hat die italienische Regisseurin Susanna Nicchiarelli schon mit ihrem Biopic „Nico, 1988“ über die Warhol-Ikone bewiesen. „Miss Marx“ erzählt die Lebensgeschichte von Karl Marx’ jüngster Tochter Eleanor (Romola Garai), die das Erbe ihres Vaters antritt. Sie ist die erste Sozialistin, die für eine Verbindung von Klassenkampf und Feminismus streitet, gleichzeitig gefangen in einer lieblosen Ehe.

Eleanor Marx nahm sich 1898 das Leben, ihrem Tod ging ein lebenslanger Kampf für Frauen- und Arbeiterrechte voraus, den Nicchiarelli mit Songs der feministischen Punkband The Downtown Boys stimmig unterlegt. Damit bewahrt sie ihren Film vor luftleerer Historiendramaturgie wie „Suffragette“ oder „Der junge Karl Marx“ (über Eleonors Mutter Jenny).

„Miss Marx“ ist auch dank einer wunderbaren Romola Garai vieles gleichzeitig: proklamatorisch, manchmal banal (Eleanor färbt sich die Haare), streitbar, popaffin (Eleanor tanzt Pogo), melancholisch. Nur eines nie: tragisch.

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