zum Hauptinhalt
Alec Utgoff spielt in der polnischen Satire „Never Gonna Snow Again“ einen Masseur mit magischen Kräften.

© Lava Films/Match Factory

Tagebuch von den Filmfestspielen Venedig (7): Holz-Twitter im digitalen Zeitalter

Die Maskenpflicht beim Kinomarathon macht selbst abgehärtete Kritiker fertig, und die Ruhe auf dem Lido lädt zum Reflektieren ein.

Von Andreas Busche

Auf 280 Zeichen lässt sich ganz schön viel Blödsinn verzapfen. Der amerikanische Präsident beweist das jede Woche aufs Neue. Aber Filmfestivals sind schnelllebig und meinungsstark, sie buhlen um Aufmerksamkeit. Die Kritik muss darauf reagieren, darum achten Festivals penibel darauf, dass im Zeitalter der sozialen Medien Embargos eingehalten werden. Stars, die schon auf dem roten Teppich die Verrisse ihrer Filme lesen, sind meist undankbare Gäste.

Wie angenehm altmodisch ist da das Message Board im Festivalgarten; gerade in diesem Jahr, in dem man jede noch so banale Erinnerung an die gute alte Zeit zu schätzen lernt. Das Schwarze Brett ist die Holzvariante von Twitter. Hier kann das Publikum Empfehlungen und Eindrücke auf Zettelchen an die Wand pinnen, viele schreiben kurze Rezensionen.

Nach einer Woche ist das Board noch nicht so voll, auch hier macht sich bemerkbar, wie ruhig es in diesem Jahr auf dem Lido zugeht. Aber es wächst zu einer schönen Festivaldokumentation heran. Es stimmt schon, Papier ist geduldig. Heute vielleicht muss es das sogar mehr denn je sein.

Keine Verschnaufpause im Kino

Jedes Filmfestival pflegt seine Beziehungen, die Stammgäste tragen zur Identität bei. Eine der schönsten Venedig-Verbindungen ist die Partnerschaft zwischen Alberto Barbera und Frederik Wiseman. Man begegnet dem amerikanischen Dokumentarfilmer alle zwei Jahre wieder. Dass „City Hall“ außer Konkurrenz läuft, hat praktische Gründe: Mit viereinhalb Stunden würde er den Wettbewerb sprengen.

Der amerikanische Dokumentarfilmer Frederik Wiseman ist Stammgast in Venedig.
Der amerikanische Dokumentarfilmer Frederik Wiseman ist Stammgast in Venedig.

© John Erwing

In Zeiten von Maskenpflicht im Kino ist er aber selbst für abgehärtete Kritiker eine echte Prüfung. Denn das Saalpersonal nimmt diese Pflicht verdammt ernst. Während einer Verschnaufpause nach drei Stunden wird man von einer Stimme im Dunkeln höflich darauf hingewiesen, doch bitte die Covid-Vorschriften einzuhalten. Wie hoch Wisemans Ansehen in Venedig ist, zeigt sich schon daran, dass im Kinosaal Applaus aufbrandet, sobald sein Name auf der Leinwand erscheint.

Dokumentation über das Bostoner Rathaus

Der Chronist amerikanischer Institutionen ist gerade jetzt umso wichtiger, da die Demokratie direkt aus dem Weißen Haus heraus untergraben wird. „City Hall“ dokumentiert die Arbeit des Bostoner Bürgermeisters Marty Walsh, einem Mann mit wenig Humor (einmal zucken seine Mundwinkel), aber starken Ansichten. Er hat sich an die Spitze der sanctuary cities gesetzt, die sich Trumps Einwanderungsbeschränkungen widersetzen.

[Mehr aus der Hauptstadt. Mehr aus der Region. Mehr zu Politik und Gesellschaft. Und mehr Nützliches für Sie. Das gibt's jetzt mit Tagesspiegel Plus. Jetzt 30 Tage kostenlos testen]

Boston ist eine reiche Stadt, rangierte aber lange an erster Stelle in der Einkommensungleichheit. Und so geht es in „City Hall“ kaum einmal um die Belange der weißen Bevölkerung. Walsh betreibt eine konsequente Minderheitenpolitik: gegen Rassismus, für Gleichstellung, Diversität, LGBTQ-Rechte, obdachlose Jugendliche.

„City Hall“ konstituiert gewissermaßen ein amerikanisches Ideal als Gegenentwurf zum Präsidenten. So offen parteilich war noch keiner von Wisemans Filmen.

Sozialrealistisches Absurdistan

Die Ruhe in diesem Jahr hilft auch beim Reflektieren. Małgorzata Szumowskas „Never Gonna Snow Again“ (Ko-Regie Michał Englert) brauchte ein paar Tage, um seine Wirkung zu entfalten. Vielleicht weil der Ertrag der letzten Tage so spärlich ausfiel.

Die Idee hat die polnische Regisseurin bei Pasolini geklaut. Ein junger Masseur mit Heilkräften taucht in einer Gated Community auf und nimmt sich der Sorgen ihrer gelangweilten, depressiven Bewohner an.

So kalt einen das Geheimnis von Zhenia (Alec Utgoff) auch lässt – er stammt aus Tschernobyl –, so faszinierend ist die Geometrie der Bilder in stählernen Grautönen, sind die bizarren Miniaturen zwischen Sex und Gewalt. Dieser sehr spezielle osteuropäische Sozialrealismus hat sich inzwischen etwas abgenutzt. Gut, dass Szumowska ihn gerne mal ins Fantastisch-Absurde wegdriften lässt.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false