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Michael Rutschky 1997 in seiner Kreuzberger Wohnung. Der Essayist starb vor im März 2018.

© Jens Kalaene/dpa

Tagebücher von Michael Rutschky: Letzte Nachrichten vom Abgrund

In seinen nachgelassenen Tagebuch-Aufzeichnungen straft der Berliner Essayist Michael Rutschky seine berühmte Heiterkeit bittere Lügen.

Wohl kaum ein Intellektueller der Bundesrepublik hat derart gegen meinungsstolzen Alarmismus, Finalismus und Fanatismus für Heiterkeit, Gelassenheit und Zuversicht, gegen Rechthaberei aufs Gesprächige plädiert wie der im März 2018 verstorbene Michael Rutschky. Mit seinem legendären, im Jahr 1980 veröffentlichten „Erfahrungshunger“, später mit Büchern wie „Unterwegs im Beitrittsgebiet“, „Die Meinungsfreude“ oder „Wie wir Amerikaner wurden“, seine Kolumnen im „Merkur“ nicht zu vergessen, schließlich durch seine Person, hat er ein intellektuelles Milieu und viele jüngere Journalisten und Schriftsteller geprägt.

In den letzten Jahren hatte er sich auf die Herausgabe komprimierter Tagebuchaufzeichnungen verlegt, „Mitgeschrieben“, Aufzeichnungen aus den Jahren 1981 bis 1984, und „In die neue Zeit“, über 1988 bis 1992. In diesem dritten und wahrscheinlich letzten Buch über die Jahre 1996 bis 2009 findet man kaum noch, wofür man ihn so schätzte und was die beiden ersten Bände noch durchzog: fantasierte Miniromane über beobachtete Nebenmenschen, kleine politische oder alltagssoziologische Beobachtungen, Sentenzen eines montaignehaften Weltvertrauens.

Starke Beschäftigung mit körperlichem Verfall und Tod

Das ungewohnt Persönliche, die Selbstbeobachtungen und Selbstzweifel, die spitzen bis verletzenden Bemerkungen über Freunde und Weggefährten, haben hier noch einmal zugenommen. Was sich bereits angekündigt hatte, die starke Beschäftigung mit körperlichem Verfall und Tod, prägt dieses durch und durch. Es beginnt und endet mit dem erbärmlichen Sterben anderer Personen. Er selbst war bei der Zusammenstellung ja bereits schwer krebskrank, und die Aufzeichnungen enden mit dem Jahr, in dem seine Frau Katharina die entsprechende Diagnose erhielt.

Er selbst hat es nur noch teilweise fertigstellen können. Sein langjähriger Freund Kurt Scheel und sein Erbe Jörg Lau haben es abgeschlossen. Kurt Scheel, der sich durch das vorhergehende Buch tief verletzt fühlte, hat sich ein generöses Vorwort abgerungen, um sich unmittelbar danach das Leben zu nehmen. Die Aufzeichnungen gehen auf handschriftliche Notate zurück, die Rutschky offenbar sehr regelmäßig seit den siebziger Jahren verfasste. Er selbst hat sie noch in elektronische Dateien transkribiert und dabei das ursprüngliche Ich in die dritte Person des R. transformiert.

Hundeauslauf, Kinogang und exzessiver Konsum von Gerichtsshows

Unter dem Datum des 16. November 2006 notiert er, wie ihn die Lust an den Notizen verlässt: „Die Routine verlangt kein Aufgeschriebenwerden, der Hundespaziergang, das Mittagessen, das Lesen auf der Couch während der Siesta.“ Einen Monat später empfindet er das Aufschreiben als „quälende Zwangshandlung“. Und tatsächlich gibt es nicht nur während der Zeit, als Rutschky sich die Hand brach, größere Lücken. Nun weiß man nicht, unter welchen Gesichtspunkten er auswählte, die angesprochenen Routinen zwischen Lektürezirkel und Hundeauslauf, Kinogang und exzessivem Konsum von Gerichtsshows im Fernsehen sind noch reichlich vorhanden, allerdings werden sie kaum mehr reflektiert.

Allgemeineres findet sich nur punktuell: BSE, die Ohrfeige für Schröder, der Tod Jörg Haiders. Die Wahl Obamas erscheint noch einmal als Lichtblick jenseits persönlicher Verdüsterung. Träume dominieren, aus der nordhessischen Kindheit, peinigende Potenz, irritierende Homosexualitätsträume. Versagensängste oder Erinnerungen an vergangene, nicht gelebte Lieben.

Er fühlt sich nicht genügend gewürdigt

Immer wieder, quälend gleichlautend, Degout am eigenen Körper, masochistisch gesteigert durch Fotografieren, gepaart mit permanenter Beobachtung von besorgniserregenden Krankheitssymptomen. Immer wieder Wut, kaum unterdrückte, Groll – ein unentwegtes Hadern mit sich und den Nächsten. Verarmungsangst, Existenznöte, die sich mit der Beobachtung des eigenen Alkoholismus und besonders dem seiner Frau amalgamieren, wenn sie ihre Schreibhemmungen zu betäuben sucht.

Während er gern betont, dass ihm das Schreiben leicht von der Hand geht, seziert er die Diskrepanz ihrer publizistischen Wertschätzung zur heimischen Schreibqual. Wird sie statt ursprünglich seiner zu einer Poetikdozentur vorgeschlagen, zerbricht daran die Freundschaft mit einer Germanistin, die ausnahmsweise nicht mit Klarnamen erscheint. Er empfindet es als Affront, dass ein Historiker aus Gründen der Einheitlichkeit seinen Beitrag zu Fußnoten zwingen will. Er fühlt sich nicht hinreichend nachgefragt, vor allem nicht genügend gewürdigt.

Ein ungewöhnlich aufwühlendes Buch

Bekommt Rainald Goetz, der immer noch unversöhnt durch die Zeilen spukt, eine Kolumne angeboten, ist er tief gekränkt: Warum nicht mir, dem Original? Wiewohl Reisen nach Slowenien, Polen, Dänemark oder Frankreich auch indizieren, dass er noch immer zu den Goethe-Instituts-Matadoren gehört, fühlt er sich ignoriert und ausgeschlossen. Erläutert ihm Jörg Lau seine Ansicht zum Irakkrieg, folgt: „kein einziger Gedanke stammte von R.“. Die vielen bitteren Bemerkungen gegen die engsten Freunde und Schüler werden kaum dadurch gemildert, dass er gegen sich selbst noch erbitterter schreibt.

Dies ist ein ungewöhnlich aufwühlendes Buch, nicht so sehr wegen der körperlichen Selbstbespiegelungen und des intellektuellen Haderns. Denn die Aufzeichnungen sind, wiewohl bedrückend, immer noch durch eine letzte Souveränität von dem aus neueren Romanen bekannten großmannssüchtigen Narzissmus entfernt. Aber weit über die Lektüre hinaus bewegt der Gedanke, welcher Bitternis die Freundlichkeit, welch’ dunklem Fond von Dauerpanik die heitere Anti-Apokalyptik abgerungen ist, für die Michael Rutschky stand.

Michael Rutschky: Gegen Ende. Tagebuchaufzeichnungen 1996 – 2009. Berenberg Verlag, Berlin 2019. 359 S., 24 €.

Erhard Schütz

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