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Kultur: Tango mortale

„Letzte Tänze“: Günter Grass singt in seinen neuen Gedichten eine Elegie der Liebe

Hier kommt der alte und zugleich noch einmal frühe Günter Grass. Fast gleichen seine erotischen „Letzten Tänze“ einer Jugendbeschwörung – und sind als Paarungs-Skizzen und Liebeslyrik des in wenigen Tagen Sechsundsiebzigjährigen auch eine traurig-trotzige, melancholisch-heitere Feier der Vitalität. Gegen den sich nähernden, in diesen Gedichten der Liebe und des Lebens mehrfach angerufenen Tod.

Der neue, alte Grass. Im Licht des Nobelpreises, im Schatten der nie verklingenden „Blechtrommel“ und angesichts aller Hundejahre und Jahrhundertfabeln, aller essayistischen Schneckenspuren, Rättinnensprünge und Krebsgänge steht auf seiner großen Bühne immer der Erzähler, der Prosaiker im Vordergrund. Natürlich hat Grass daneben nie aufgehört, mit Kohle und Blei, mit Hammer, Pinsel, Ton und Stein zu zeichnen, zu formen, zum Bild zu hauen – diese sinnlich handfesten Künste waren ja überhaupt sein Anfang. Aber bevor die große Weltruhmfahrt mit dem Glaszersinger und Trommelschwinger Oskar Matzerath begann, gab es schon den Poeten. Und für Proben aus seinem Debüt, einem graziösen Gedichtband mit dem luftigen Titel (und Titelgedicht) „Die Vorzüge der Windhühner“, erhielt der arme, junge G.G. 1955 vom Süddeutschen Rundfunk seinen ersten Literaturpreis.

Auch wenn sich Grass mit stolzer Bescheidenheit nur als „Gelegenheitsdichter“ bezeichnet hat, gehören einige seiner frühen poetischen Eingebungen zum Allerschönsten: die „Windhühner“ oder ein gedankenlyrischer „Vogelflug“, ein witzig vertracktes „Kinderlied“ (Wer lacht hier, hat gelacht? / Hier hat sich’s ausgelacht./Wer hier lacht, macht Verdacht,/daß er aus Gründen lacht...“), sein Lob des Radiergummis („Mit den Augen meines Radiergummis gesehen / ist Berlin eine schöne Stadt“) oder ein legendärer Rezept-Hymnus auf die „Schweinekopfsülze“.

Für einen Schriftsteller, als dessen Pfund doch die Prosa (oder das Drama) gilt, können solche Perlen, solche Federn bisweilen auch gefährlich werden. Man hat es zuletzt bei Brecht gesehen. Während viele Künstler und Kritiker Schwierigkeiten mit seinem von den Zeitläuften entzauberten Theater bekamen, erschien der bis heute bewunderte anarchische, erotische oder elegische Lyriker B.B. gleichsam als Gegenbild des bröckelnden Dramatikerdenkmals. Auch Grass war da gefährdet: Den Nobelpreis 1999 bekam er für die vor 40 Jahren erschienene „Blechtrommel“ – erst der Kriegs- und Gegenwartsroman „Im Krebsgang“ hat 2002 dem Bild des Epikers Grass wieder neuen, ungetrübten Glanz verliehen. Eine Bestätigung, eine Befreiung, die jetzt auch in der Beschwingtheit seiner Gedichte durchscheint.

Diese „Letzten Tänze“ im Göttinger Steidl Verlag werden begleitet von zahlreichen Kohle- und Rötelzeichnungen, tanzende, zirkulierende, kopulierende Paare (der Mann hat eher einen Brecht-Kopf als ein Grass-Gesicht). Dabei fallen einem die letzten Blätter des greisen Picasso ein, der kurz vor seinem Tod noch einmal mit fast bubenhafter Lust die Potenz von Pinsel und Pimmel beschwor. Doch welch’ ein Unterschied – zwischen Weltkunst und, ja doch: versiertem, bisweilen virtuosem Kunstgewerbe. Grassens Skizzen wirken im Zusammenklang mit den Gedichten eher illustrativ als imaginativ.

Einige der poetischen Stücke aber sind in ihrer kalkuliert schlichten Sprache, in ihrem spröden Pathos, in dem Witz, der sich elegisch mit leichter Schwermut paart, wahrhaftig Meisterwerke. Sie überstrahlen gelegentliche Schwächen, vor allem, wenn Grass selbst im poetisch Privaten noch politisch sein will, mit floskelhaften Anspielungen auf den Irakkrieger Bush („des Cowboys Raketen“) oder die Alibirollen von amerikanischen Schwarzen: „In Vietnam verkauften sie ihre dunkle Haut /.../ gegen die Haut der Gelben“, heute „bringen sie ihren Job / weißer als weiß zu Ende /... / besorgen ... das globale Geschäft ihrer beherrschenden Bosse“. Da bleibt die Sprache ganz Botschaftshülse und Kunst mal wieder das Gegenteil von gut gemeint.

Aber das ist schnell vergeben und vergessen, wie auch der wiederholt rührende (allerdings nicht peinliche) Stolz, dass dem Dichter auf halber Strecke zwischen Kopf und Fuß noch immer eine glückliche Regung widerfährt („was Wunder! / er steht“).

Es gibt ja so viel anderes. Furioser und manchmal auch zarter, leiser. Zunächst ist da jener G.G., der zeitlebens ein fabelhafter, bei Frauen berühmt-berüchtigter, bewunderter und geliebter Tänzer war. Alles andere als ein hüftsteifer Kopfmann. Und von nun an gehören Grassens Liebeserklärungen an den Rag, an den Schieber und an das hocherotische Ritual des Tangos zur Hauspostille unserer lyrischen Literatur. Für dieses tänzerische Paaren auf Biegen und doch nicht Brechen, für diese Magie höchster Nähe und Distanz, Spielbein gegen Schambein, findet Grass seine schönsten Verse: „der Leib, der den Leib flieht, / gestreckt auf der Flucht ist, / so reißt es uns hin.“ Oder das: „Zwei Körper, die eins sind, doch nichts / von sich wissen, geschieden in Treue, / in Treue vereint.“ Und dann der Schluss: „Das ist der Tango, die Diagonale. / Aus Fallsucht zum Stillstand. / Ich höre dein Herz.“

Bisweilen tanzt er, wie seine Skulpturen, auch auf „tönernen Füßen“, und was zu Scherben geht, ist womöglich das Glück, das altgewordene Herz, das vor Atemnot zu springen droht, das um eine Tanzpause bittet. Oder um ein Innehalten der Liebe. Dazwischen, inmitten der „Letzten Tänze“, steht hier ein Großpoem in Reimen, manchmal Jamben, genannt „Des Wiederholungstäters halbherzige Beichte“. Darin spielt Grass mit dem ältesten Spiel – nicht nur mit der Liebe, auch mit dem poetischen, lebenswirklichen Wechsel von Schein und Sein, Moral und Masche, Konfession und Wahrheit. „Ich molk Vergangenheit, nahm Zukunft auf Kredit“, er feierte „zu viele hochdotierte Siege“, sagt kokett-kritisch „So wurd zum Standbild ich“, bekennt sich zum steinewälzenden „Sisyphus-Prinzip“ („und nannte Glück, was mich bergaufwärts trieb“), spricht vom absichernden Netz der Wörter („es ist die Furcht des Mutes feig verschwiegner Teil“) – das klingt dann wieder ein wenig nach Brecht, nach dem Selbstbild: In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen.

Aber die Liebe und die Poesie verlassen ihn nie, machen ihn bei solcher „Beichte“ nicht gar zu bescheiden: „Nur manchmal, wenn ich Stein und Tanz entkam / und mich vergrub in feuchtbestellter Scham, / gelang mir ein Gedicht, in dem sich nichts mehr reimte, / jedoch ein Körnchen Wahrheit zwischen Zeilen keimte, / mein Versfuß gab sich hinkend, doch nicht lahm.“ Und wenn trotzdem irgendwann einmal alles still steht, bleiben noch Philemon und Baucis, das alte Baumpaar – bei Grass sind es zwei Buchen aus einer Wurzel und nackt im Winterwind: Sie „tanzen auf der Stelle“. Das bleibt.

Günter Grass: Letzte Tänze. Gedichte und Bilder. Steidl Verlag, Göttingen 2003. 96 Seiten, 35 €.

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