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Kultur: Tanz den Klassiker-Twist

Frische Formate, neue Namen: Die Auswahl des Berliner Theatertreffens sorgt für Überraschungen.

Mangelnde Entdeckungsfreude ist der Kritiker-Jury des Berliner Theatertreffens einmal mehr nicht vorzuwerfen. Bei der Auswahl der zehn bemerkenswertesten Inszenierungen des deutschsprachigen Raums setzt sich der Trend des vergangenen Jahres fort: frische Formate statt gepflegter Klassik, Newcomer statt großer Namen. Die sieben Juroren, von Festspiele-Intendant Thomas Oberender und Theatertreffen-Leiterin Yvonne Büdenhölzer als Rekordreisende gelobt, haben aus 430 gesichteten Aufführungen ein viel versprechendes und garantiert polarisierendes Programm zusammengestellt.

Das Berliner Gewinner-Theater ist dabei die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, eingeladen mit gleich drei Produktionen. Darunter findet sich zwar keine vom Intendanten Frank Castorf. Aber mit diesem Erfolg seines Hauses im Rücken – und angesichts der Tatsache, dass er 2013 auf 70 Prozent seiner Berliner Bezüge zu verzichten bereit ist, während er in Bayreuth den Ring stemmt – scheint eine Verlängerung seines Vertrags nicht unwahrscheinlich, der im kommenden Jahr ausläuft.

Regisseur Herbert Fritsch, im Vorjahr gleich zweifach vertreten, ist mit seiner Schwank-Bearbeitung „Die (s)panische Fliege“ nach Franz Arnold und Ernst Bach zu Gast, einer Radikal-Kalauerei mit garantiertem Gute-Laune-Faktor. Ebenfalls von der Volksbühne kommt René Polleschs jüngste Inszenierung „Kill your Darlings – Streets of Berladelphia“, die sich „klug und lässig von Brechts Fatzer-Fragment abstößt“, wie Jury-Mitglied und Tagesspiegel-Autorin Christine Wahl bei der Präsentation der Auswahl befand. Und drittens entschied sich die Jury für die Ibsen-Performance „John Gabriel Borkman“ von Vegard Vinge, Ida Müller und Trond Reinholdtsen, die in Kooperation mit dem Nordwind-Festival am Prater der Volksbühne entstanden ist. Eine zwischen acht und zwölf Stunden dauernde Total-Entgrenzung des Künstlerkollektivs, die der Bild-Zeitung die Schlagzeile wert war, Achtung Vorfreude: „Das perverseste Theater-Stück Berlins“.

Zwei weitere performative Arbeiten im Theatertreffen-Programm sind in Kooperation mit Matthias Lilienthals Hebbel am Ufer entstanden. Lilienthal blickt ohnehin auf eine sagenhaft erfolgreiche Zeit zurück, wenn er im Sommer das HAU an Annemie Vanackere übergibt. Da sind diese Einladungen ein schönes i-Tüpfelchen. Die Gruppe Gob Squad zeigt ihre sehenswerte Arbeit „Before your very Eyes“, die mit sieben Kindern auf der Bühne ein Leben im Schnellvorlauf durchspielt – von der Pubertät über die Midlife-Crisis bis zur Bahre. Und Milo Rau präsentiert mit seinem „International Institute of Political Murder“ die beachtliche Inszenierung „Hate Radio“. Es ist das Re-Enactment einer einstündigen Radioshow des ruandischen Senders RTLM, der 1994 propagandistischer Wegbereiter für den Genozid der Hutu an den Tutsi war. Unbedingt einladenswert.

Neben der Volksbühne und dem HAU dürfen sich aber auch die Münchner Kammerspiele freuen. Intendant Johan Simons wird mit seinem Sarah-Kane-Triptychon „Gesäubert / Gier / 4.48 Psychose“ nach Berlin reisen. Und Karin Henkel zeigt ihren „Macbeth“ mit Jana Schulz als kriegstraumatisiertem Heerführer. Die Inszenierung habe München gespalten und breche mit den Erwartungen an das Shakespeare-Stück, verspricht Juror Franz Wille.

Aber Inszenierungen im Berliner-Ensemble-Stil sind ohnehin nicht zu erwarten. Nicolas Stemanns achtstündiger Salzburger-Festspiele-Marathon „Faust 1 + 2“ findet dem Vernehmen nach einen so eigenwilligen wie intelligenten Zugriff auf den Vater aller Klassiker. Sogar auf den zweiten Teil, von dem ja „schon Goethe wusste, dass man daran nur scheitern kann“, so Jurorin Anke Dürr. Das Durchhalten muss sich schließlich lohnen.

Auf immerhin fünf Stunden kommt die Tschechow-Bearbeitung „Platonov“, die der lettische Regie-Star Alvis Hermanis am Wiener Akademietheater eingerichtet hat. Die Inszenierung im für Hermanis typischen, hypernaturalistischen Bühnenbild hat auch deswegen von sich reden gemacht, weil man die Akteure, wie Platonov-Darsteller Martin Wuttke, in den elegischen Salons nicht immer verstehen muss – der Murmel-Tschechow. Aber im Leben versteht man schließlich auch höchstens die Hälfte.

Regisseur Lukas Langhoff schließlich, auch er Theatertreffen-Debütant, ist mit Ibsens „Volksfeind“ vom Theater Bonn ebenfalls ein wirkungsvoller Klassiker-Twist geglückt. Er hat dem Badearzt einen Migrationshintergrund mitgegeben, was in den Augen der Juroren eine ganz eigene Dynamik entfaltet. Langhoff übrigens, da schließt sich doch der Kreis, hat seine Regiekarriere als Leiter des Praters der Volksbühne begonnen.

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