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Kultur: Tanz der Formen

Wiebke Siem und Jadwiga Maziarska: eine großartige Doppelausstellung in der Galerie Johnen.

Arme und Beine baumeln, knubbelige oder lange Nasen schnuppern Galerieluft, hier ein scheu lächelnder Mund, dort ein paar treu glotzende Augen. Ein dürrer Metallkamerad streckt sogar frech die Zunge im Format eines extralangen Schuhlöffels heraus. Die Assoziation „Mensch“ stellt sich schnell ein, dabei sind die wie Marionetten an Schnüren hängenden Figuren von Wiebke Siem, eine Zehnergruppe in der Galerie Johnen, bloß aus Holzperlenketten, Metallrohren und allerlei Hausgerät (je nach Figur: 10 000 bis 12 000 Euro). Die anthropomorphen Gegenstände habe sie im Internet ersteigert, erzählt Siem. Mit Fundstücken hat die 1954 in Kiel geborene Künstlerin schon oft gearbeitet, wie ein schöner, in Nürnberg erschienener und Werke von 1983 bis 2013 umfassender Katalog zeigt. Diesmal vereinheitlicht Siem das Aussehen ihrer Figuren durch schwarze Farbe. „Eve“, „The Overseer“, „Muck Muck“ und wie sie alle heißen, wirken geradezu unheimlich. Wie Skelette, die auf eine Aufforderung zum Totentanz warten – wenn bloß einer die Fäden zöge. Doch ein Marionettenspieler ist nicht in Sicht. Und die Füße, mitunter in Form von Kartoffelstampfern, berühren den Boden nicht.

Mitte der neunziger Jahre wurde Wiebke Siem durch serielle Arbeiten bekannt, in denen sie Kleidungsstücke und andere Alltagsdinge in oft riesenhafte Holz- oder Stoffobjekte verwandelte und abstrahierte. In ihren „Repliken“ setzte sie sich mit volkskundlichen Möbeln und Trachten auseinander. In den vergangenen zehn Jahren hat sie sich immer wieder mit Kindheitsfantasien beschäftigt. In Kulissen aus gebrauchtem Mobiliar tummelten sich ulkige bis alptraumhafte Kobolde, hockten auf Kommoden und drängten aus geöffneten Schränken. Immer wieder zitiert Siem Kunst- und Kulturgeschichte. Formale Anklänge an Werke von Constantin Brancusi, Alberto Giacometti oder Max Ernst sind auch bei der neuen Werkgruppe unübersehbar. „Ich liebe und hasse die Surrealisten“, sagt die Künstlerin allerdings, „ihr Frauenbild ist unerträglich.“ Überhaupt sei die bekanntermaßen stark männerdominierte Klassische Moderne „total sexualisiert“. Siems schwarze Gerippe in aseptisch-weißer Umgebung wirken durchaus wie ein Exorzismus, die Figuren sind asexuell, ihr Geschlecht bleibt unbestimmt. Daneben zeigt die Künstlerin mit ihren frühen Arbeiten, zwischen 1975 und 1981 entstandene Aquarelle und Pastelle (Preise: 2500-4500 Euro), so präzise wie atmosphärische Raumansichten.

Während Siem die oberen Räume der Galerie bespielt, wird im Erdgeschoss eine Künstlerin gewürdigt, die in diesem Jahr 100 geworden wäre. Eine kleine, sehr aussagekräftige Retrospektive mit Werken der Polin Jadwiga Maziarska hat die junge Warschauer Kuratorin Barbara Piwowarska zusammengestellt (Preise auf Anfrage). Piwowarska beschäftigt sich seit längerem mit der Avantgarde Osteuropas und erzählt sichtlich bewegt, wie sie die 90-jährige Maziarska drei Monate vor ihrem Tod noch kennenlernen konnte. Atemberaubend die formale und materielle Vielfalt, in der Maziarska über vier Jahrzehnte ihr Thema deklinierte. Es geht um formale Dekonstruktion und Rekonstruktion; in den Gemälden, Collagen und Skulpturen finden sich Arbeiten, die wie Architektur aussehen. In anderen Werken lässt die Künstlerin Gegenständliches bewusst zerfallen. Wasser, Tierfell, Haut oder Gardinenstoff aus Zeitschriftenabbildungen arrangiert Maziarska zu abstrakten Kompositionen, mit denen sie eine eigentümlich-herbe Sprache spricht.

In Krakau gehörte Maziarska zum Zirkel des berühmten Regisseurs, Malers und Kunsttheoretikers Tadeusz Kantor. Das Angebot der Avantgarde an die sozialistische Gesellschaft – etwa mit der „I. Ausstellung Moderner Kunst in Krakau“ (1948) – scheiterte bald an der Doktrin des Sozialistischen Realismus. Jahrelang wurden Maziarska und ihre Mitstreiter an den Rand gedrängt. Maziarskas jüngste Werke stammen aus den siebziger und achtziger Jahren. Die beiden „Räumlichen Formen“ aus Holz und Metall wirken elegant und brutal zugleich. Die Objekte und Bilder erzählen von Unbeugsamkeit, sie lassen spüren, dass Maziarska es doppelt schwer hatte: als formbewusste Künstlerin in einem totalitären Staat – und als Frau in einer Männerdomäne, der Kunst.

Betrachtet man die Schau als Doppelausstellung, so sind die zeitlichen und ästhetischen Sprünge evident. Es wäre müßig, tiefere Zusammenhänge zwischen den Künstlerinnen herzustellen. Aber muss es denn zusammenpassen? Zwei starke Künstlerinnen, zwei künstlerische Entwürfe von großer Suggestivität und Intelligenz – was will man mehr?

Galerie Johnen, Marienstr. 10; bis 13. 4., Di–Sa 11–18 Uhr

Jens Hinrichsen

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