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Kultur: Tanzend in den Untergang

Die kreative Leere: Neue Theaterstücke von René Pollesch und Anja Hilling in Wien.

Charles Trénets „La mer“ verebbt wehmütig. Stoisch sitzt Margit Carstensen in einem Silberglitzeroverall in einem Holzboot, das bedrohlich schaukelnd vor dem Prospekt einer aufgepeitschten Meerlandschaft vorüberschwankt, während Martin Wuttke durch wogende Pappmacheewellen taucht und wild mit den Armen fuchtelt. „Alle reden vom Untergang, und ich bin umgeben von den Resten einer Katastrophe, aber ich komme immer noch nicht an das Tragische heran, an etwas, das das mit meiner Bedeutungslosigkeit verknüpfen könnte“, raunt es aus Carstensen.

Es ist die Anfangssequenz aus Alfred Hitchcocks „Lifeboat“ von 1944, einer Parabel über den drohenden Untergang der Demokratie durch Indifferenz gegenüber dem Faschismus, die Regisseur René Pollesch zum assoziativen Ausgangspunkt seines neuesten Theatertextes „Die Liebe zum Nochniedagewesenen“ am Wiener Akademietheater macht. In einer Naturgeschichte von Katastrophen ist der entfremdete Mensch längst selbst Grund des tragischen Untergangs: „Ich brauche eine andere Liturgie des Sinns und der Wahrheit“, sinniert Wuttke und zeigt auf seinen Körper: „Das hier ist die Tragödie!“

Schwebend-leichtfüßig und in stilisiert antiker Pose wie einst Vaslav Nijinsky schmiegt sich Wuttke zu Claude Debussys impressionistischem „Nachmittag eines Fauns“ zärtlich an die goldgelbe Plastikhaut eines aufgeblasenen Riesenknotens im Zentrum von Bert Neumanns ansonsten kahler Bühne.

Diskursiv schlingernd zwischen Filmfragmenten und philosophischen Gedankensplittern Jacques Derridas und Jean-Luc Nancys, der Frage nach wahrer Gemeinschaft, nach Tragödie und Liebe jenseits zwanghafter Kommunikationsstrukturen, rutschen vier Schauspieler ab bei dem Versuch, die Plastikskulptur zu erklimmen. Nur wenn die Luft raus ist, dösen sie in der schlaffen Kunsthaut.

Die Video-Liveprojektion zeigt diese Vogelperspektive ebenso wie den Blick hinter die Kulissen, wo Margit Carstensen, Catrin Striebeck, Stefan Wieland und Martin Wuttke eine Rauchpause in der Garderobe einlegen, ohne aber ihren Gedankenaustausch zu unterbrechen. Ungewohnt zäh und leidenschaftslos inszeniert Pollesch in dieser Uraufführung die Simulation gemeinsamen Denkens – als hätte die Reflexion das Theater verdrängt, siegt die Ratio über die Sinnlichkeit. René Polleschs Theatermaschine läuft auch im neuen Jahr auf Hochtouren. Am 18. Januar bereits kommt sein Text „Kill your Darlings! The Streets of Berladelphia“ an der Volksbühne zur Uraufführung; ein Soloauftritt für Fabian Hinrichs mit Chor.

Um Großstadtneurotiker geht es auch bei der Berliner Dramatikerin Anja Hilling in ihrem surreal-sarkastischen Gesellschaftsdrama „Der Garten“, das Felicitas Brucker am Wiener Schauspielhaus zur Uraufführung gebracht hat. In fünf Akten, kommentiert von einem Chor sprechender Blumen, erzählt Anja Hilling vom Ausstieg einer Musikkritikerin aus einem Verbund zynischer Ich-AGs „im Verfettungsmodus“, ausgelöst durch einen Konzertbesuch: „Ich will was fühlen“, erklärt sie ihrem trostlosen Freund Martin (Max Mayer).

Vier durchsichtige Paravents ermöglichen fließende Szenenwechsel auf karger Bühne (Susanne Hiller): vom exotischen Blumengarten, worin Antonia nunmehr als Gärtnerin eines Rockstars arbeitet, zu einer im Alkohol versinkenden Partygesellschaft, die ohne Antonia deren 35. Geburtstag feiert. Die Regisseurin verteilt Szenenanweisungen und Blumenkommentare in fliegendem Rollenwechsel. Die Sehnsucht „zweier abgefuckter Seelen“ nach dem verlorenen Paradies endet schließlich im Liebestod durch eine Überdosis Antidepressiva. Zwei Kriminalbeamte sichern den Tatort, Grillen zirpen und Froschgequake liegt über der Szenerie. Leider banalisiert Brucker das Drama, ungehört bleibt die Verzweiflung. Christina Kaindl-Hönig

Christina Kaindl-Hönig

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