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Feuervögel. Eine Szene aus dem Tanzstück „In the Black Garden“, mit dem die Company aus Israel das Wolfsburger Festival am Donnerstag eröffnen wird. Foto: Gadi Dagon /dpa

© picture alliance / dpa

Tanztheater: Das Dorf der jungen Tänzer

Die Kibbutz Contemporary Dance Company gastiert beim „Movimentos“-Festival in Wolfsburg. Eine Israelreise in ein Dorf voller Tänzer.

Tänzer haben eine eigene Art, den Raum zu übernehmen. Wie sie sich ausbreiten, wie sie pendeln zwischen Entspannung und Spannkraft, wie sie vor der Vorstellung Energie aufbauen. Die Physis will immer bedient werden, sei der Raum auch noch so eng.

Im Tourneebus mit der Kibbutz Contemporary Dance Company (KCDC): Eine Tänzerin hat sich zwischen die Sitzreihen auf den Boden gelegt, sie dehnt sich im Halbschlaf, ein anderer hängt über der Sitzlehne, als wäre er im FitnessStudio, dazu die charakteristischen Geräusche, die menschliche Mobilität verursacht; das Rauschen der iPods, das Klicken der Handytastatur, das Ratschen von Rucksackreißverschlüssen.

Nur zweieinhalb Stunden dauert die Fahrt von Nahariya nach Rehovot, da kommt man durch halb Israel, passiert Haifa und Tel Aviv, die israelischen Autobahnen sind hervorragend ausgebaut. Es ist Freitag, und es geht zum Gastspiel im Weizmann Institute of Science in Rehovot, der Universitätsstadt. Nachher wird sich die Truppe zerstreuen. Einige fahren in den Norden zurück, in den Kibbuz, die meisten wollen das Wochenende in Tel Aviv verbringen.

Mit 200 Auftritten im Jahr absolviert die Company eine außergewöhnlich große Zahl von Vorstellungen. Sie touren durch Israel, sie reisen durch die Welt. Brasilien, Mexiko, USA stehen dieses Jahr auf dem Tourplan, der im Büro zu Hause im Kibbuz Ga’aton eine ganze Wand ausfüllt; ein logistisches Meisterwerk, das an die Farbmustertafeln von Gerhard Richter erinnert. Am kommenden Donnerstag eröffnet die Kibbutz Contemporary Dance Company das Movimentos-Festival in der Wolfsburger Autostadt mit einer Uraufführung: „In the Black Garden“.

In den sanften Hügeln West-Galiläas liegt die Wahlheimat der Tänzer. Sie stammen in der Mehrzahl aus Israel, sie leben und arbeiten zurückgezogen im Kibbuz Ga’aton, acht Kilometer vom Badeort Nahariya entfernt, und sie sind sehr jung, im Schnitt Mitte 20. Es gibt eine zweite, halbprofessionelle Company, deren Mitglieder noch jünger sind. Sie können zum Wehrdienst eingezogen werden, der in Israel drei Jahre für die Männer dauert und zwei Jahre für die Frauen.

Die Grenze zum Libanon ist zum Greifen nah. 2006 wurde Nahariya mit Katjuscha-Raketen beschossen, die Einwohner flohen in den Süden. Ga’aton wurde 1948, im Jahr der israelischen Unabhängigkeit, von Auswanderern aus Ungarn gegründet. Ga’aton, ein Tanzdorf. Wurde der ursprüngliche Kibbuz-Gedanke sonst von der Entwicklung überholt, hier lebt er fort. Das Gemeinschaftshaus, in dem die Kibbuz-Mitglieder früher ihre Mahlzeiten einnahmen, dient heute als Tanzstudio. Tür an Tür wohnen die Tänzer, dicht bei den Proben- und Aufführungsräumen und dem Company-Café, wo sie sich zwischen den Stunden treffen.

Die Kibbutz Contemporary Dance Company verlangt besondere Konzentration und Hingabe, das unterscheidet sie von anderen Companies. Und doch ist sie gut vernetzt, von Isolation kann keine Rede sein. Auf den internationalen Gastspielreisen hält die Truppe Auditions ab, die Nachfrage ist groß. Und in Ga’aton werden regelmäßig fünfmonatige Workshops angeboten, die junge Tänzer aus aller Welt auf ihr professionelles Leben vorbereiten. Fünf Monate im Kibbuz – für Anfänger eine lange Zeit, die richtige Entscheidung zu treffen, so oder so. Nicht wenige entscheiden sich zu bleiben.

Kontinuität bestimmt das Leben der zugleich abgeschlossenen und weltoffenen Gemeinschaft. Der Besucher spürt es sofort. Man kommt in eine community, die keine Kommune ist und auch nichts Sektiererisches hat. Die Stücke, die in Ga’aton entstehen, zeichnen sich durch starke Bildhaftigkeit, expressive Körpersprache und eine manchmal vordergründige Melodramatik aus. In einem kleinen Land wie Israel will und muss diese Company ein breites Publikum erreichen. Das gelingt nur mit einer plakativen Erzählweise. Zeitgenössischer Tanz mit ausgeprägten theatralischen Elementen: Man spürt den Einfluss einer Pina Bausch, einer Susanne Linke, die hier auch schon gearbeitet hat. Gastchoreografen werden gelegentlich eingeladen, doch es ist vor allem ein einziger Mann, der die Ästhetik der Kibbutz Contemporary Dance Company prägt, seit vielen Jahren.

Rami Be’er leitet die Truppe seit 1996. Er ist im Kibbuz geboren, seine Eltern gehörten zu den Gründern von Ga’aton und leben heute noch dort. Der 52-Jährige hat das neue Stück nicht nur choreografiert, er schrieb auch die Musik und das Poem „In the Black Garden“, das den unheilschwangeren Ton vorgibt. Von einem roten, einem gelben und einem blauen Soldaten raunen die Verse, von einer unspezifischen Bedrohung und allgegenwärtiger Gewalt. Eine direkte politische Aussage will Rami Be’er nicht treffen, auch wenn er von der Westbank und Gaza als den „besetzten Gebieten“ spricht. Die angespannte Situation in Israel, zumal an den Grenzen, die Gefahr, all das gehöre zur Normalität in Ga’aton, er kenne nichts anderes. Gewiss sei seine Arbeit davon durchdrungen, von dieser seltsamen Energie. Er lasse sich aber ebenso von der Natur inspirieren, von der Literatur – Rami Be’er liebt Georg Büchner –, vor allem aber von der Musik. Das Wichtigste: „Wer sich für Ga’aton entscheidet, muss wirklich tanzen wollen. Tanzen müssen. Muss dieses Feuer in sich spüren.“

Er spricht leise und mit hoher Stimme, ein freundlicher Visionär. Das Tanzdorf beschreibt er als eine Pyramide: an der Spitze die beiden Companies mit je 15 Mitgliedern, dann die Workshops, das Programm für Kinder und Laien, „für jeden, der Lust hat zu tanzen“, schließlich Yoga- und Pilates-Klassen für die Menschen aus der Umgebung. Eine Pyramide aus Dynamik, Leidenschaft und Schweiß.

Ramis Vater war Architekt. Er kommt aus einem musischen Haushalt und lernte wie seine Geschwister früh, ein Instrument zu spielen. Er kam als Kind schon zum Tanz. Die Geschichte der Kibbutz Contemporary Dance Company ist so alt wie Rami selbst – und noch älter.

Ga’aton, das Dorf der Tänzer, ist auch ein Dorf der Katzen. Sie sitzen, lauern, verstecken sich überall. Huschen durch die Dunkelheit. Abends liegt eine tiefe Stille auf dem Kibbuz, das schwere Eingangstor ist geschlossen. Man muss den Weg zum Haus von Jehudith Arnon kennen, sonst findet man es nicht. Yuko Harada geht voraus. Die Japanerin gehört seit vier Jahren zur Dance Company, vorher tanzte sie in Deutschland, sie ist mit 31 Jahren die Erfahrenste der Truppe. Sie klingelt, eine Haushälterin öffnet. Ein kleiner Hund kläfft und rennt wild hin und her.

Man muss hier kurz innehalten. Weil Ga’aton, die Company und alles andere hier, all die atmosphärischen Besonderheiten nicht existieren würden ohne Jehudith Arnon. Sie ist jetzt 84 Jahre alt. Geboren in der Nähe von Bratislava, wird sie mit 18 nach Auschwitz deportiert. Josef Mengele, der furchtbare KZ-Arzt, schickt ihre Mutter in die Gaskammer. 1944 wird Yehudith zu einer Weihnachtsfeier der SS befohlen. Sie soll zur Unterhaltung etwas vortanzen, wie sie es manchmal für die anderen Gefangenen getan hat. Sie weigert sich. Zur Strafe muss sie die Nacht im Freien verbringen, barfuß im Schnee. Damals soll sie geschworen haben, ihr Leben dem Tanz zu widmen, wenn sie da lebend herauskommt. 1945 steht sie in einem Lager in Mähren vor einem Erschießungskommando. Rettung kommt im letzten Moment durch die Rote Armee.

Yehudith sitzt in ihrem Wohnzimmer, ihr Sessel ist ihr Regiestuhl, sie kann sich nach einer schweren Operation kaum mehr bewegen. In ihren Augen brennt ein fröhliches, triumphales Feuer, sie hält die Hand des Besuchers fest umklammert. Dann erhebt sie sich, langsam und stolz und mit Schmerzen, die majestätische Geste eines Menschen, der nie aufgibt und Stillstand nicht kennt. Ihr Mann Yedidya, mit dem sie 1948 nach Israel kam, schenkt starken ukrainischen Schnaps aus und übersetzt. Yuko erzählt Neuigkeiten aus dem Tanzdorf.

Yehudith Arnon hat einen ganzen Kibbuz auf die Beine gebracht. Anfangs unterrichtete sie Waisenkinder und Kinder von Einwanderern. Der Tanz war die einzige gemeinsame Sprache, der Tanz stiftete Gemeinschaftsgefühl, vermittelte den Kindern und später auch Erwachsenen Stolz und Identität. Mit dem Wort Folklore lässt sich das kaum beschreiben, was sie damals aufführten im Kibbuz. Volkstanz für ein junges Volk. Schon 1962 setzte die künstlerische Entwicklung zum Modern Dance ein, bald darauf gründete Yehudith Arnon ein Tanz-Zentrum für die gesamte Region im Norden Israels.

Sie holte berühmte Choreografen wie Matts Ek aus Stockholm und Jiri Kylian vom Nederlands Dans Theater nach Ga’aton, es kamen die ersten Einladungen auf internationale Festivals. Sie holte auch Ayman Safieh, einen jungen, hochbegabten Palästinenser, in den Kibbuz und ermöglichte ihm die Tanzausbildung – eine Friedensgeste und Pioniertat. Safieh machte als „arabischer Billy Elliot“ Schlagzeilen, er setzte sich mit Yehudiths Hilfe gegen Widerstände und Vorurteile in seinem Dorf und seiner Familie durch („Ein arabischer Mann tanzt nicht!“). Sie ist eine energische, auratische Lehrerin, man spürt es immer noch. Rami Be’er nahm bei ihr Unterricht. Er wurde ihr Meisterschüler und ihr Nachfolger. So bleibt die Company in der Kibbuz-Familie.

Yehudith Arnon spricht deutsch, ungarisch, hebräisch, englisch. Manchmal alles durcheinander. Besuch bedeutet ihr viel. Die Kibbutz Contemporary Dance Company ist ihr Lebenswerk, sie hat es dem Tod entrissen. „Wo ich tanzen gelernt habe?“, sagt sie. „Hier.“ Sie schiebt den Ärmel hoch und zeigt die Tätowierung: „Auschwitz war mein Training.“ Dabei geht ein leiser Ruck durch ihren Oberkörper. Sie hat sich aufgerichtet. Die Eleganz ihrer Haltung hat etwas Überirdisches, so wie es nur bei Menschen sein kann, deren Herz die Bühne und deren Seele die Bewegung ist.

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