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Tanztheater: Stolz und Vorurteil

Hebbel am Ufer: Constanza Macras bittet in „Hell on Earth“ Neuköllner Jugendliche zum Tanz.

Von Sandra Luzina

Sie schreien, so laut sie können, nicht nur, wenn der Name Tokio Hotel fällt. Sie schlaffen völlig ab, hängen durch. Und katapultieren sich wieder in halsbrecherische Breakdance-Battles oder Hoolahoop-Ekstasen. Oder intonieren mit Verve ihre „Ich hab keinen Bock“-Generationshymne. Die pubertierenden Jugendlichen in „Hell on Earth“ mögen durch die Hölle gehen. Doch was die Choreografin Constanza Macras auf der Bühne des Hebbel-Theaters anzettelt, ist auch eine tolle Party.

Für ihr Erfolgsstück „Scratch Neukölln“ aus dem Jahr 2003 holte Constanza Macras neben den Profitänzern von Dorky Park auch waschechte Neuköllner Kids auf die Bühne. Nun gibt es ein Wiedersehen mit der frechen Fatma El-Moustapha und ihren Brüdern. Macras hat das Experiment wiederholt: Sie lässt die jungen Darsteller von ihren Hoffnungen und Ängsten erzählen. Aber die Vorzeichen haben sich verändert; die Kids sind mittlerweile Teenager. Die argentinische Choreografin legt den Fokus auf die vielfältigen Erfahrungen des Fremdseins – und die entspringen nicht nur der Sozialisation in Berlins verrufenstem Kiez.

Sie findet dafür prägnante Bilder, fantastisch überhöht und offensiv komisch. Und man denkt: Genau so fühlt es sich an! Denn wir leben mittlerweile ja in einer No-Age-Gesellschaft – so klärt das Stück auf – und kommen aus der Pubertät gar nicht mehr heraus. Macras verbindet das mit Konsumkritik: Jungsein ist dadurch definiert, dass man die auf die jugendliche Zielgruppe zugeschnittenen Waren konsumiert. In „Hell on earth“ geht es auch, aber nicht nur um solche wichtigen Fragen wie: Bin ich zu dick oder zu dünn? Kaufe ich bei Pimkie oder H & M? Höre ich lieber Hip-Hop oder Oriental Pop?

Macras demonstriert: Wer mit Jugendlichen mit Migrationshintergrund arbeitet, muss sich noch lange nicht den Schneid abkaufen lassen. Sie fragt nach Körper und Geschlecht, sie erkundet, wie Entwürfe von Weiblichkeit und Männlichkeit sich zueinander verhalten. Das ist oft polemisch und gewagt – Geschlechterpolitik auf der Bühne. Die jugendlichen Darsteller reproduzieren dämliche Stereotype, um ihnen dann lustvoll zu Leibe zu rücken.

So lässt Macras die kleinen arabischen und palästinensischen Jungs mal kurz in die Frauenrolle schlüpfen: Sie verhüllen sich kichernd mit Schleier und orientalischen Gewändern – und lassen dann derbe Frauensprüche los: „Die wollen nur ficken!“ Und wenn Fatma loslegt, die als Einzige ein weißes Kopftuch trägt, erledigen sich alle Vorurteile über die ach so unterwürfigen Muslima von selbst. Fatma, Lulu, Lial und die anderen Mädchen begeistern durch ihre ungekünstelte Girl-Power. Sie erteilen uns eine Lektion in Stolz und Vorurteil – und geben den Jungs ganz schön Kontra.

Auch die professionellen Darsteller fügen sich wunderbar ein in den Teenager-Kosmos – allen voran die großartige Tatiana Saphir. Die Argentinierin verkörpert das Psycho-Girl im rosa Kleidchen, die Wuchtbrumme, die das Niedlichkeitsschema sprengt. Auch ihre Gefühle sind zu mächtig. Wenn sie einem Jungen ihre Liebe erklärt, klingt das wie ein Drohung. Mit unschuldigem Befremden stellt sie anfangs fest, welche Reaktionen ihr Körper provoziert. In der lustigsten Szene des Abends nietet sie mit wogendem Busen alle Jungs um.

Horror und Hormone, Anpassung und Aufbegehren: „Hell on Earth“ begeistert mit rasanten Tänzen und rabiat-witzigen Statements. Macras hat wunderbar die Kurve gekriegt zwischen Einfühlung und Aufklärung. Und die jungen Darsteller: ganz große Klasse!

HAU 1, Stresemannstraße 29. Weitere Vorstellungen heute sowie am 13., 15., 16., 18.– 20. 4., jeweils um 19 Uhr 30

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