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Kostbare Momente. Katja Scholz und Leonardo D’Aquino in „Minute papillon“.

©  Dieter Hartwig/Halle Tanzbühne

Tanztheater: Toula Limnaios in Berlin: Jag’ mit mir nach dem Glück

Auf Schmetterlingsflügeln: Mit „Minute papillon“ in der Halle Tanzbühne sucht die Choreografin Toula Limnaios nach dem Sinn der Existenz.

Von Sandra Luzina

Es ist wohl die längste und intensivste Kuss-Szene der Tanzgeschichte: Daniel Afonso, der wie ein erotischer Vampir anmutet, presst seine Lippen resolut auf die von Karolina Wyrwal. Und während die beiden sich zu den Klängen von Schumanns Klavierwerk „Des Abends“ umeinanderdrehen, zu Boden sinken, übereinanderrollen und wieder emporkatapultieren, bleiben sie immer verbunden, stets in beherztem Mund-zu-Mund-Kontakt. Eine kleine Ewigkeit scheint diese Szene zu dauern: Karolina Wyrwal und Daniel Afonso sorgen in „Minute papillon“ so für die Schmetterlingsgefühle.

Das neue Stück von Toula Limnaios ist eine Reflexion über die Zeit – und die Flüchtigkeit des Glücks. Der Titel „Minute papillon“ bezieht sich auf eine französische Redensart, die so viel wie „Halt mal inne!“ bedeutet. Wieder hat die Berliner Choreografin poetische, verrätselte Bilder erfunden, um die menschliche Existenz auszukundschaften.

Die Tänzer treten mit dreckstarrenden Gesichtern auf - beeindruckend

Die Tänzer haben mit erschwerten Bedingungen zu kämpfen. Wie schon in „Every single day“ ist der Boden mit Torf bedeckt. Ein Stück Kunstrasen rahmt das erdige Feld ein. Hironori Sugata in schwarzem Overall verausgabt sich in einer völlig sinnlosen Tätigkeit. Er schaufelt Erde in einen Eimer, schleppt sie auf die oberste Plattform des Metallgerüstes und wirft sie von dort auf die Tanzenden herab. Wenn der feine Torf von oben herunterrieselt, fühlt man sich an eine Sanduhr erinnert. Karolina Wyrwal, auf silbernen High Heels, wird dann mit beiden Füßen eingebuddelt. Memento mori – das scheinen viele der Szenen dem Zuschauer zuzuraunen.

Die Tänzer wirbeln ganz schön viel Staub auf in „Minute papillon“. Sie trotzen tapfer den ständigen Attacken auf Augen, Mund und Nase. Doch pflügen sie sich auch geradezu hingebungsvoll durch den Torf. Ein Höhepunkt ist das Trio von Inhee Yu, Katja Scholz und Leonardo D’Aquino. Die drei springen und hechten in den Torfhügel, reißen den anderen mit in ihr Erdbett. Und rappeln sich jedes Mal wieder auf. Wie sie mit dreckstarrenden Gesichtern ihre Wühlarbeit verrichten, ist beeindruckend.

Der Komponist Ralf R. Ollertz schichtet die verschiedenen Zeitebenen übereinander. Metallische Klänge überlagern die romantische Klaviermusik. Dazu bewegt die Gruppe der Tänzer sich ruckhaft wie Roboter. Sie sind hier ganz dem Diktat der messbaren Zeit unterworfen. Doch oft haben die Tänzer etwas Getriebenes. Sie jagen dem Glück nach – doch die kostbaren Momente lassen sich nicht festhalten. Und auch der Partner bietet keinen Halt. So erhalten die erfinderischen Duette mit der Zeit etwas Abgründiges. Scholz und D’Aquino sind zunächst in ihr Verführungsspiel vertieft. Er läuft ihr wie ein dressiertes Hündchen hinterher. Bald aber ziehen und zerren sie sich gegenseitig und bleiben doch aneinandergekettet. Daniel Afonso breitet seinen Mantel um Karolina Wyrwal, nimmt ihren Kopf in seine Hände, bewegt sie sanft. Sie bleibt passiv, während er sie hebt und trägt. Doch entgleitet sie ihm später immer wieder, sinkt zu Boden, er wuchtet sie wieder hoch, klebt ihr Augen und Mund mit Pflaster zu. Blind und stumm ist sie ihm nun völlig ausgeliefert. Zärtlichkeit mündet auf diese Weise in Manipulation. Er scheucht sie mit Kommandos herum, stoppt ihren Lauf, doch sie tanzt beharrlich weiter, lässt sich nicht unterkriegen.

Toula Limnaios inszeniert ausdrucksstarke wie sinnliche Szenen

Toula Limnaios beackert in „Minute papillon“ wieder ihre wesentlichen Themen. Die Figuren rennen ihren Obsessionen hinterher – und stemmen sich mit Verve gegen die Vergeblichkeit. Ihren Existenzialismus übersetzt Toula Limnaios in ebenso ausdrucksstarke wie sinnliche Tanzszenen. Vor allem die Duette sind sehr prägnant choreografiert und fangen die emotionalen Facetten der Figuren ein. Und die bravourösen Tänzer gehen nicht nur erfinderisch mit der Erdanziehung um. Sie verleihen der Reflexion über Sein und Zeit auch eine große emotionale Intensität.

Halle Tanzbühne, Eberswalder Straße 10–11, wieder vom 3.–6. und 10.–13. Dezember, 20 Uhr

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