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Kultur: Tatjanas Traum

Orchester aus Halle und Frankfurt im Konzerthaus

Um es frei nach Karl Valentin zu sagen: Kunst ist auch in der Provinz schön – macht da aber noch mehr Arbeit. Während Berlins Orchester nach letzten Weihnachtskonzerten bis Silvester in winterliche Starre fallen und zwischen den Jahren allenfalls noch sogenannte Telefonorchester, zusammengetrommelte Truppen, arbeiten, ergreifen Orchester aus dem Umland ihre Chance. Das Staatsorchester Frankfurt (O.), gewissermaßen Brandenburgs offizieller Klangkörper, gastierte am ersten Feiertag im Konzerthaus und tags darauf die Staatskapelle Halle, derzeit das zweitgrößte Klassikensemble Deutschlands nach dem Gewandhausorchester, das 2006 aus einer nicht ganz freiwilligen Fusion von Opern- und Konzertorchester hervorging. Bei musikalischen Begegnungen dieser Art sind die mit fünf Weltklasseorchestern verwöhnten Berliner aufgefordert, offenen Ohres auf die Logiergäste zuzugehen.

Der Auftritt der Frankfurter beginnt mit einem Schreckensmoment: Sicher, Tschaikowsky wünscht sich den Eröffnungssatz seines 1. Klavierkonzerts „molto maestoso“ – aber muss man das pathetische Thema so langsam, so breit spielen, wie es Dirigent Michael Sanderling anzeigt, während der Pianist Vladimir Stoupel tonnenschwere Akkorde setzt, als schleuderte ein zorniger Gott Gebirge auf die Erde? Stoupel wagt eine besondere, ganz private Interpretation des vertrauten Stücks, macht aus dem virtuosen Reißer für Tastensprinter ein Tongedicht über die Kämpfe einer verzweifelten Seele. Er lässt sich vom Notentext zu einer rhapsodischen Erzählung inspirieren, zum Operntableau, packend und atmosphärisch dicht wie Tatjanas Briefszene aus „Eugen Onegin“. Gegen alle Konventionen öffnet in Tschaikowskys Oper eine junge Frau ihrem Angebeteten ihr Herz. Es gehört für den Pianisten ebenso viel Mut dazu, in Zeiten, wo alles auf die schwerelose Brillanz eines Lang Lang schwört, durch emotionale, herzgesteuerte Deutung klarzumachen, warum das Werk einst als ungeheuerlich, geradezu obszön privat galt. Und nach der Pause entfaltet sich Tschaikowskys 1. Sinfonie „Winterträume“ unter Sanderlings sprechenden Händen zur bildreichen, lebhaften Stimmungsmusik.Frederik Hanssen

Auf liebgewordene Tradition setzt Pavel Baleff mit der Staatskapelle Halle. Unbeschadet aller historischen Aufführungserkenntnisse darf Bachs D-Dur-Ouvertüre ihr klangprächtiges Feiertagsgewand anlegen; auf weichen Streichersohlen schreitet die „Air“ einher. Konventionell auch der Zugriff auf Beethovens Violinkonzert: der hochbegabte Solist Feng Ning hat es zunächst schwer, im pathetisch-unflexiblen Tempo zum eigenen Ton zu finden. Doch in der Kadenz fliegt er davon, wie der Vogel aus dem Käfig, in offenere Landschaften. Der traumhafte Übergang in den meditativen Abgesang berührt danach umso mehr. Auch im Larghetto steuert der 26-jährige Chinese eine flüssigere Gangart an, gewinnt Zeit für getupfte Dreiklangsaufgänge und empfindsam-graziöse Kantilenen. Zeigt das Orchester gelegentlich auch wenig Sinn für Fengs Nuancierungskunst, geht es bei Mendelssohns „Italienischer“ Sinfonie doch in die Vollen. Im Kopfsatz bestechen federleichte Streicher, im Andante berückende Klarinettengesänge und feine Farbwechsel – und im „Saltarello“ fliegen die Fetzen.Isabel Herzfeld

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