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Die Schriftstellerin Kerstin Preiwuß.

© Jorinde Gersina/Berlin Verlag

"Taupunkt" von Kerstin Preiwuß: Wenn der innere Chor in Aufruhr ist

An den Übergängen vom Leben und vom Sterben: Kerstin Preiwuß’ Gedichtband „Taupunkt“.

Nach einem Eröffnungsgedicht, das in der Schlusszeile die Möglichkeit einer Punktgenauigkeit befragt, beginnt das neue Buch von Kerstin Preiwuß mit einem Zeitpunkt, der Genauigkeit suggeriert und durch einen Zusatz doch eher unbestimmt bleibt. „22:58:12 / Gleich Nacht“ heißt es auf einer ansonsten leeren Doppelseite. Auch wenn die Uhrzeit sekundengenau notiert ist, macht die Formulierung, „gleich“ beginne die Nacht, alle Punktpräzision zunichte.

Derlei Verschiebungen prägen die Lyrik der 1980 im mecklenburgischen Lübz geborenen Schriftstellerin, die schon mit dem Titel „Taupunkt“ auf die Thematik ihres nunmehr vierten Gedichtbandes (Berlin Verlag, Berlin 2020.105 S., 22 €.) hinweist. Taupunkt bezeichnet in der Physik jene Temperatur eines feuchten Gasgemisches, bei dem sich Kondensieren und Verdunsten der feuchten Bestandteile die Waage halten.

Wenn es sich bei diesem Gasgemisch etwa um Wasserdampf und Luft handelt, dann muss der Taupunkt unterschritten werden, damit sich Feuchtigkeit, also Tau abscheiden kann.

Was Naturwissenschaftler in Formeln und Diagrammen beschreiben, kann in der Lyrik eine Metapher sein, für Übergänge, die sich im Sprachlichen, aber auch im geistig-seelischen Bereich abspielen. Im Schlaf gibt es einen Bereich, in dem die Genauigkeiten des Tages durch Verschiebungen und narrative Projektionen ersetzt werden. In Träumen treten Dämonen auf oder werden Sehnsuchtsgeschichten durchgespielt.

"Die Liebe duckt sich"

Manchmal stockt auch der regelmäßige Atem, eine Apnoe wird zur Gefahr. Eine solche Schlafstörung dient Preiwuß als poetische Figur im ersten „Taupunkt“-Gedichtzyklus, um die lyrischen Motive und Muster zu benennen, die sich in Variationen durch den Band ziehen. Der Umschlagpunkt ist hier eher ein imaginäres Innehalten.

Die Beispiele sind anschaulich: Ob nun beim Wäscheaufhängen das Wasser verdunstet, das später wieder als Regen auf die Erde niedergeht, oder beim Wellengang an der Küste, wenn große und kleine Steine hin- und hergetragen werden, die fließenden Übergänge scheinen unser Leben, aber auch das Sterben zu bestimmen.

Wobei der Sensemann bei Preiwuß, wie schon in früheren ihrer Gedichtbände, in weiblicher Gestalt auftritt: „Da kommt die Tödin. / Die Listenmacherin setzt ihren Strich.“ Im Schlaf, der auch der kleine Bruder des Todes genannt wird, geht der Kampf ums Leben also weiter. Mal ist Eros stärker, mal scheint Thanatos zu gewinnen, dann wieder sind die Fronten völlig unklar: „Aber die Tödin beschnuppert mich voller Liebe. / Aber die Liebe buckelt sich. / Die Liebe duckt sich. / Die alte Kupplerin kennt mich nicht.“

Preiwuß erkundet Nachtgedanken in einer Form, die gut passt zum Inhalt der Verse. Diese Lyrik ist so artifiziell wie zärtlich, so verwirrend wie verwunschen, so merkwürdig undurchdringlich und dann wieder erschreckend klar. Preiwuß schreibt in freien Rhythmen, setzt aber auf Symmetrie in der Gesamtkonstruktion.

Neben dem Taupunkt tauchen andere naturwissenschaftliche Phänomene auf, etwa der circadiane Rhythmus, womit in der Chronobiologie ein fester Wechsel von Schlaf und Wachsein innerhalb einer bestimmten Zeitperiode gemeint ist. Viele Rätsel tun sich in den tieferen Schichten dieser Traumpoesie auf. Manchmal gehen Verweise ins Leere, dann wieder fühlt man sich auf sicherem Verständnisterrain, etwa wenn wechselwarme Tiere herbeizitiert werden.

Existentielle und sprachliche Grundsatzfragen

So richtig glücklich scheint diese Dichterin aber erst zu sein, wenn sie die Grenzen der lyrischen Konvention überschreitet, wenn sie sich gewissermaßen den sprachlichen Taupunkten nähert.

Wenn die Bilder sich auflösen, die Perspektiven durcheinandergewirbelt werden, wenn nicht ganz klar ist, wer die kreisenden Gedanken formuliert, ein beunruhigtes Ich oder eine höhere, unpersönliche Reflexionsinstanz, die zur Ruhe mahnt: „Mein innerer Chor ist in Aufruhr. / Verbellt die kommende Hälfte an Jahren. (…) Man kann schwierige Zeiten überstehen. / Man kann das überleben. / Alles andere bleibt die Kunst der Tiere.“

Wer in den preiwußschen Lyriknetzen einmal gefangen ist, wird sich sowohl existenziellen als auch sprachlichen Grundsatzfragen stellen müssen. Richtige Antworten scheint es hier genauso wenig zu geben wie die Hoffnung, sich aus dem Fadenwerk jemals zu befreien.

Im letzten Traumstück des Buchs ist die Erzählstimme nach den gedanklichen Anstrengungen völlig erschöpft und hat kaum noch Energie für das, was kommen mag. „Es hat die ganze Nacht gespukt. / Und ich friere.“ Die Ängste, die in der Dunkelheit kamen, sind längst nicht überwunden, der Morgen ist steif und kalt: „Die Wärme reicht vielleicht zum Öffnen eines Augenlids.“ Schließlich wieder eine trügerischere Zeitangabe: „09:49:44 / Gleich Tag“. Preiwuß endet mit einem Morgengruß, der ein Grundthema der Literatur aufgreift: jenen individuellen Taupunkt zu finden, in dem die vielen Gedanken kondensiert werden können. Kerstin Preiwuß’ flirrend schöne Poesie ist so auch als biographisch angelegter Versuch zu lesen, die innere Temperatur so zu drosseln, dass aus dem unruhigen Geist im weitesten Sinne flüssige Sprache entsteht, ohne dabei den Bezug zum Gasförmigen zu verlieren.

Carsten Otte

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