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Der spätere Präsident Fidel Castro und seine Kämpfer demonstrieren im Mai 1957 in der Sierra Maestra mit dem Spruch "Wir leben noch". Castro führte einen Guerillakampf gegen das Batista Regime, das mitgeteilt hatte, dass die Rebellen aufgerieben und vernichtet seien. Anfang 1959 siegte die Kubanische Revolution.

© dpa

„Telex aus Kuba“ von Rachel Kushner: Die Fäulnis vor Fidel

Die Sonne brennt, die Luft steht: Die grandiose Rachel Kushner erzählt in „Telex aus Kuba“ von der Zeit vor Castros Revolution - größtenteils aus der Sicht von Kindern.

Paradise lost. STOP. So hätte 1959 nach der kubanischen Revolution ein Telegramm US-amerikanischer Spätkolonialisten lauten können. Rachel Kushner wirft in ihrem Roman „Telex aus Kuba“ einen ungewöhnlichen Blick auf die Jahre vor der Revolution, auf die letzten Jahre des amerikanischen Einflusses auf Kuba, bevor Che Guevara und die Castro-Brüder das Schicksal der Insel langfristig verändern sollten. Die Geschichte handelt vom allmählichen Verfall eines vor gewitterschwerer Hitze unwirklich erscheinenden Paradieses. Eines Paradieses für wenige und auf Zeit.

Die US-Autorin führt ihre Leserinnen und Leser in eine Art tropische Gated Community, nach Preston, einen vergangenen Ort, der im Zuge der Revolution mitsamt Expat-Bevölkerung von den Landkarten radiert wurde. Schauplatz ist also das amerikanische Nickel- und Zuckerimperium in Kubas Osten der fünfziger Jahre, die Provinz Oriente, „Kubas größte, ärmste und schwärzeste Provinz“. So leitet zu Beginn die kindliche Stimme des Haupterzählers, K. C. Stites, Sohn des Leiters der kubanischen Sektion der United Fruit Company und Besitzers von über 130 000 Hektar anbaufähigen Landes, in die Geschichte ein.

Die US-amerikanische Schriftstellerin Rachel Kushner, geboren 1968 in Eugene, Oregon, war bereits zweimal für den National Book Award nominiert. Sie lebt in Los Angeles.
Die US-amerikanische Schriftstellerin Rachel Kushner, geboren 1968 in Eugene, Oregon, war bereits zweimal für den National Book Award nominiert. Sie lebt in Los Angeles.

© LUCY RAVEN/ROWOHLT

Wer Kushners Roman „Flammenwerfer“ kennt, der hierzulande 2015 erschien, erinnert sich an das rasante Tempo der Geschichte einer jungen Bikerin, die ihren Platz sucht in der exzentrisch-snobistischen New Yorker Kunstszene der siebziger Jahre. In „Telex aus Kuba“, dem nun auf Deutsch veröffentlichten Debütroman Kushners, geht es viel gemächlicher zu. Das Erzähltempo gleicht dem eines schwülen Tropentages. Die Sonne brennt, die Luft steht, allmählich kündigt sich der Inselkoller an.

Große Teile des multiperspektivischen Romans erzählen Kinder. Mit ihren Augen blickt man aus den Panoramafenstern des Pan-Am-Clubs auf die zur Erntesaison anlegenden Schiffe, aus denen Pulks von Jamaikanern strömen und auf Zuckerrohrwaggons verfrachtet werden, um in 18-Stunden-Schichten „brutale, brutale Arbeit“ zu leisten. Mit kindlichen Ohren hört man die schalen Reden einer dekadenten Erwachsenenwelt, erlebt einen Kosmos voller Pullman-Autos mit privaten Chauffeuren, Villen mit Hausangestellten, Affären, exklusiven Partys und rassistischer Selbstverständlichkeit.

Man liest mit allen Sinnen

Man folgt den zwei heranwachsenden Haupterzählern K. C. Stites und Everly Lederer bei ihrer Initiierung in die unerbittlichen Kodizes dieser surrealen Welt, in der sich alles um Status und Hautfarbe dreht. Da ist etwa Everlys Faszination für den haitianischen Hausdiener Willy, der beim Putzen mit dem Besen durch das Wohnzimmer tanzt, wohlwissend, dass ihn ein realer Tanz mit Everly seine hart erarbeitete Position kosten würde. Das rotblonde Mädchen mit seiner Fabulierkunst muss hingegen schmerzlich erfahren, wie eine Welt voller Privilegien einen Abgrund zwischen ihr und Willy aufreißt, so unüberwindbar wie das US-Embargo nach der Revolution.

Man liest mit allen Sinnen und meint, die Fäulnis durch die Buchseiten zu riechen. Kushner zeichnet das Sittenbild einer tropischen Moderne, eines US-kubanischen fin de siècle. Während die amerikanischen Ehefrauen von Langeweile und Alkoholismus geplagt werden, brodelt es im restlichen Kuba. Die Revolution ist nah. Unvermittelt springen die Erzählteile zwischen unterschiedlichsten Perspektiven. Alle kommen sie zu Wort: die Rebellen in den Bergen, allen voran Fidel und Raúl, dubiose kubanische High-Society-Investoren, nicht zuletzt ein französischer Waffenlieferant und Agitator mit SS-Vergangenheit, ein zynischer Melancholiker mit Hang zur Perversion und einem Faible für ein Showgirl aus Havanna mit dem kafkaesken Namen Rachel K. Selbstverständlich fehlt auch nicht ein Gastauftritt von Hemingway in seiner Havanner Stammbar „El Floridita“.

Die unterschiedlichen Erzählstränge verflechten sich schließlich zu einem großen Ganzen. Die Episoden in der Provinz Oriente sind dabei die besten, glaubwürdigsten des Romans: Rachel Kushner erzählt die Geschichte ihrer Mutter, für die ihre Kindheit im Osten Kubas nach all den Jahren noch immer ein Mysterium darstellt. Kushners Mutter gab die Vorlage für die impulsive Everly, die Figur mit der unmittelbarsten Erzählstimme.

Das Setting ist so bildhaft und eindringlich, dass Phyllis Nagy, Drehbuchautorin von Todd Haynes’ Highsmith-Verfilmung „Carol“, Kushners Roman derzeit für eine TV-Serie adaptiert. Auch weil der historisch-kulturelle Kontext eindrucksvoll detailreich und stimmig ist. Für ihr in den USA 2008 veröffentlichtes Debüt hat die 1968 in Eugene, Oregon geborene Kushner drei Jahre mit Recherche verbracht. Die eingestreuten Radioausschnitte von Clavelito’s Show und Radio Rebelde, Redeschnipsel von Castro und Details über die Gepflogenheiten des Diktators Batista sowie die Weihnachtstraditionen seiner Ehefrau geben nicht nur einen exzellenten Eindruck von den großen politischen Ereignissen, sondern vermitteln auch die Atmosphäre jener Zeit, das Lebensgefühl jener imperialistischen Ära, die 1959 beendet wurde.

Rachel Kushner erzählt dieses kaum bekannte Kapitel der Geschichte mit Feingefühl und ohne den Schutzschild einer rückwirkend verharmlosenden, politisch korrekten Sprache. Was die zweifach beim National Book Award nominierte Autorin in „Telex aus Kuba“ an Atmosphäre, psychologischer Komplexität und sozialem Realismus zu einem tropisch glitzernden Moment der Geschichte verdichtet, ist ungleich komplexer als das, was der Titel andeutet. Sie hat ein genauso bilderreiches wie subtiles, momenthaft verweilendes Epos geschrieben, das mit einem Telex wenig gemein hat.

Rachel Kushner: Telex aus Kuba. Roman. Aus dem Englischen von  Bettina Abarnell. Rowohlt Verlag, Reinbek 2017. 460 Seiten. 19,95 €.

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