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Tempelhof: Lob der Leere

Das Nichts als letzter großer Luxus: Eine Tempelhof-Fantasie von Christine Lemke-Matwey.

Dies ist eine Liebeserklärung an die Brache. Ein Plädoyer für das Vakuum. Denn nichts entbehren wir so sehr wie das Nichts. Jedes Atom in uns, hat der Künstler Anselm Kiefer in seiner Frankfurter Friedenspreisrede unlängst mitgeteilt, sei in der Welt bereits vorhanden. Das bedeutet: Wo wir nicht sind, sind wir auch. Es gibt wohl Grenzen des Bewusstseins, aber keine Grenzen physischer Identität. Und also sind wir immer auch da, wo (scheinbar) nichts ist. Mehr noch: Hier und nur hier sind wir von uns befreit. Nur wo der Blick sich so schnell nicht bricht, sehen wir vielleicht noch etwas.

Diese Woche schließt Berlins Flughafen Tempelhof. Keine „Casablanca“-Gefühle mehr beim Laufen übers morgengraue Rollfeld, keine Blicke ins wohnzimmerliche Kleinbürgeridyll beim Landeanflug mit Propellermaschinen. Das ist traurig, auch weil wenige urbane Orte, nicht nur in der Hauptstadt, über so viel sentimental value verfügen dürften. Gleichzeitig bringt das Land Berlin weder Mittel noch echtes Interesse auf, das riesenhafte Areal einer vernünftigen und zukunftsträchtigen alternativen Nutzung zuzuführen. Man hat, was man braucht, und selbst davon mehr, als man sich leisten kann. So einfach geht Stadtplanung.

Prompt schießen allüberall Privatideen ins Kraut, vom Designerzoo bis zur Original-Berliner Currywurstmeile, vom Kunstcamp übers Langlauf-Paradies bis zur garantiert generationenverträglichen, mit Kinderlärmschutzwänden bewehrten Townhouse-Überbauung. Im Zweifelsfall gewinnt, wer sich Investor nennt und das meiste Geld mitbringt. Dies alles gehorcht einem einzigen Impuls: der Angst. Der Angst vor dem Nichts und davor, nichts zu tun. Keine Idee zu haben. Zugeben zu müssen, dass unsere Visionen getrogen haben. Weil längst alles voll ist mit Mauern, Meilen, Camps und umbauter, zersiedelter, zugerümpelter Realität. In London, Wien, Paris, New York oder Tokio verhält sich das nicht anders.

Als im Berlin der frühen neunziger Jahre der Mauerstreifen noch Brachland war, machte die Architektin Zaha Hadid den kühnen Vorschlag, es doch vorläufig dabei zu belassen. Auf dass die deutschdeutsche Grenze im freien Spiel der Kräfte zu sich selber fände. Ergebnis dieser kleinen Intervention: Den Potsdamer Platz bauten andere. Nun wäre es im Fall Tempelhof sicher nicht damit getan, das Flughafengebäude abzuschließen und das Gelände sich selbst zu überlassen. Die besagte Unerträglichkeit des Nichts, sie führte noch über Nacht zum Abstecken von Claims, Säen von Samen, Abladen von Müll, Parken von Wohnwägen, darin ist der Mensch, der Berliner zumal, ganz archaisch. Und Tempelhof besitzt nicht die ideologische Fallhöhe der Mauer.

Nein, man müsste konzeptionell einen Schritt weitergehen und die gesamte Freifläche konservieren, ja sozusagen einwecken. Eine meterhohe entspiegelte gläserne Wand drumherum ziehen, an diese, wiederum im Kreis und wie in einer Peepshow, Einzelkabinen andocken (selbstredend nicht gläsern!) und Eintritt verlangen. Hier kauerte er dann oder stünde auf Zehenspitzen, der gestresste Großstadtmensch mit seinen gestressten Atomen, und starrte in dieses Andere, ins Nichts und tankte auf, und die Atome weiteten sich und atmeten wieder frei. Der Mensch sieht, wie sich die Flora nach und nach des Asphalts bemächtigt, wundert sich, wo so schnell so viele Wildschweine herkommen und lernt, im Kreis der Jahreszeiten zu schwelgen.

Es wäre dies gewissermaßen die Umkehrung von Marlen Haushofers Roman „Die Wand“, erstmals erschienen 1963. Damals findet sich das Ich mitten in der Natur plötzlich dem puren Nichts ausgesetzt und verzweifelt, fast. Heute – ganz ohne Roman – ist es froh um jede noch so kleine Ritze, Lücke oder Leerstelle, die sich ihm bietet. Das Nichts als letzter großer Luxus. Berlin wäre eine reiche Stadt.

Eine

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