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Kultur: Terror und Güte

Filmfest Venedig: Judi Dench brilliert als „Philomena“, Terry Gilliam enttäuscht mit einem Sci-Fi-Film.

Zu wenige Stars am Lido, schimpfen die italienischen Gazetten. Uns Berlinern kommt das bekannt vor. Wo bleiben die Stars? Auch zu Beginn der Berlinale wird das Klagelied alljährlich angestimmt. Spätestens hier in Venedig offenbart das Lamento sein wahres Wesen als liebgewordene Gewohnheit der Festivalbesucher und realitätsfernes Ritual. Seit George Clooney und Sandra Bullock zur Eröffnung Furore machten, liefen Nicolas Cage, Jesse Eisenberg, Daniel Radcliffe, Judi Dench, Steve Coogan, Zac Efron und Mia Wasikowska über den roten Teppich. Ob kreischende Teenies oder ehrfürchtig staunende Cineasten, alle kommen auf ihre Kosten. Und Scarlett Johansson wird noch erwartet.

Gut, zu Terry Gilliams britisch-amerikanischem Science-Fiction-Opus „The Zero Theorem“ mit Christoph Waltz in der Hauptrolle als Cyber-Eremit sind aus dem Star-Ensemble (mit Matt Damon, Tilda Swinton, Ben Wishaw) lediglich Mélanie Thierry und David Thewlis angereist. Waltz spielt den depressiven, glatzköpfigen Qohen Leth, ein Rädchen im digitalen Getriebe des alles um- und erfassenden World Wide Web. In seinem mit Monitoren und Zivilisationsmüll zugemöbelten Kirchenschiff wartet er auf den einen Telefonanruf, von dem er sich Auskunft über den Sinn des Lebens erhofft.

Eine krude apokalyptische Story, wie so oft bei Gilliam ist sie in einer verrotteten Zukunft angesiedelt. Aber die barock wuchernde Fantasie des Monty-Python-Veterans und „Twelve-Monkey“-Regisseurs kreist nur noch um stereotype Denkfiguren, kaum dass seine Ruinenästhetik des Internetzeitalters noch Witz, Sarkasmus oder Horror freisetzt. Tilda Swinton als skypende Therapeutinnen-Bitch, virtueller Sex als Sonnenuntergang-am-Strand-Kitsch und die Überwachungskamera als Substitut für das dornengekrönte Haupt des Gekreuzigten: Zerschlagt die Monitore, die Welt geht ohnehin unter, ach ja.

Die Briten und Amerikaner bringen immerhin etwas Politik in den Wettbewerb des 70. Filmfests Venedig. Kelly Reichardt schickt in „Night Moves“ drei Öko-Aktivisten aus Oregon auf eine radikale Mission. Sie wollen ein Zeichen setzen, sprengen einen Staudamm in die Luft und müssen damit klarkommen, dass ihre Tat ein Todesopfer erfordert. Der Film geht nüchtern zur Sache, verzichtet auf Ideologie, zeigt auch den nächtlichen Anschlag nicht, nur die Vor- und Nachbereitungen. Ein Boot kaufen, Ammoniumnitrat-Dünger besorgen, am Montag wieder pünktlich zur Arbeit gehen. Aber was, wenn die Bürde der Schuld einen in Panik versetzt? Der sanfte Josh alias Jesse Eisenberg arbeitet in einer Landkommune, „Knight Moves“ macht den Zuschauer auch mit der Welt der Ökobauern und Biomärkte vertraut. In der Genossenschaftsküche reagiert man eher mit Befremden auf die TV-Nachrichten vom Anschlag. Ein Staudamm weniger, sagen die meisten, das bringt der Umwelt rein gar nichts.

„Der Baader Meinhof Komplex“ auf amerikanisch? Kelly Reichardt schließt die Gewaltfrage nicht mit den Genreregeln des Actionfilms kurz, sondern nähert sich ihr, so konkret es irgend geht. In welchem Moment genau wird einer zum Mörder, zum Täter, zum Terroristen? „Knight Moves“ koppelt die Moral gleichsam ab und beobachtet, wie sie eine umso existenziellere Wucht entfaltet und eben jene Humanität deformiert, in deren Namen die drei zu Werke gingen.

Peter Landesman verzichtet in seinem Regiedebüt „Parkland“ ebenfalls aufs Ideologische, zumindest auf den ersten Blick. Parkland Memorial Hospital heißt das Krankenhaus, in das John F. Kennedy am 22. November 1963 nach den tödlichen Schüssen in Dallas, Texas gebracht wurde. Ärzte, Krankenschwestern, Geheimdienste, lokale Behörden – wie haben sie diesen Tag vor 50 Jahren erlebt? Was tun, wenn Mr. President als blutverschmierte Leiche auf dem OP-Tisch liegt? Wenn der Sarg nicht durch die Flugzeugtür passt?

Auch Landesman koppelt das Konkrete, die schnöden Verrichtungen, gleichsam vom amerikanischen Trauma ab. Sein Ensemblefilm mit Billy Bob Thornton und Zac Efron nimmt sich wie eine Kreuzung aus „Emergency Room“ und „Homeland“ aus. Gegen den Reportagestil wäre nichts einzuwenden, wenn man wüsste, welche neue Wahrheit er auf diese Weise zutage fördern möchte. Was genau geschah, ist bis heute nicht restlos aufgeklärt und Stoff für Verschwörungstheorien.

„Parkland“ will ein Bild von dem Chaos vermitteln, das in den Stunden nach der Tat in Dallas herrschte. Davon, wie alle überfordert sind, kopflosen Aktionismus entfalten. Zum Ärgernis wird die temporeiche Inszenierung auf den zweiten Blick trotzdem. Die sattsam bekannten Ungereimtheiten des 22.11.1963 ignoriert er und erwähnt mit keiner Dialogzeile, was längst in Büchern und Dokumentarfilmen belegt ist. Geheimdienst, FBI und Polizei fürchteten nicht nur Imageschäden, sie müssen auch aus anderen Gründen Fakten vertuscht und Akten beiseitegeschafft haben. So illustriert „Parkland“ die höchst zweifelhafte Einzeltäter-Theorie, ein fragwürdiger patriotischer Beitrag zum Jubiläumsjahr des Attentats.

Und noch eine wahre Geschichte, verfilmt vom britischen Regiemeister Stephen Frears, auch sie liegt ein halbes Jahrhundert zurück. Die junge Irin Philomena Lee ist schwanger, ein „gefallenes Mädchen“, das im Kloster seinen Sohn zur Welt bringen und für die Nonnen schuften muss. Kaum dass er laufen kann, wird der kleine Anthony vom Orden an reiche amerikanische Adoptiveltern „verkauft“. Scham und Schande, 50 Jahre später will Philomena ihren Sohn endlich finden und reist nach Washington, mit dem Topjournalisten Martin Sixsmith, der nach einem Politskandal gerade von der BBC gefeuert wurde.

„Philomena“ ist Judi Dench, 78, ein Star, eine Königin der Herzen, in England mindestens so beliebt wie die Queen – und das Ereignis des Festivalwochenendes. Phänomenal, wie sie dieser einfachen, ungebildeten, trotz ihres tragischen Schicksals lebenslustigen Frau ihre Schauspielkünste zu Füßen legt, wie sie mit Steve Coogan als Martin ein herrlich ungleiches Paar bildet. Die ehemalige Krankenschwester kann Oxford und Cambridge nicht auseinanderhalten, gibt Martin haarklein den Inhalt kitschiger Liebesromane zum Besten, freut sich wie ein Kind über das üppige Frühstücksbuffet im Nobelhotel. Während Judi Dench ihre Figur keine Sekunde lächerlich macht, kann der Akademiker da nur die Nase rümpfen. Aber er wird bald eines Besseren belehrt. Sie ist die Herzenskluge, nicht er, und verzeiht den Nonnen schließlich, eine Geste der Güte, wie man sie selten erlebt.

Ein Film über einen weiteren Skandal in der katholischen Kirche, es gab zahlreiche solcher Mütter und Kinder. Stephen Frears hält es mit seiner Protagonistin, trägt die Empörung nicht wie eine Monstranz vor sich her, beschönigt aber auch nichts und setzt das Opfer ins Recht. Vor der Gala-Premiere von „Philomena“, erzählt Judi Dench beim kurzen Interview auf der Hotelterrasse mit Lagunenblick, hat sie wieder einmal gewettet. Das tut sie für ihr Leben gern. Wetten, dass es keine Ovationen gibt?

Sie hat haushoch verloren und freut sich königlich, denn der Einsatz war eine weitere, private Reise nach Venedig. Der Preis für die beste Darstellerin dürfte ihr ohnehin sicher sein.

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