zum Hauptinhalt
68erin. Nojet (Leonore Ekstrand) kehrt aus Spanien zurück und muss entscheiden, was sie mit ihrem Erbe macht - einem verwahrlosten Miethochhaus.

© Pierre Björk

„The Real Estate“ im Wettbewerb: Altern ist nichts für Feiglinge

Hilfe, ich habe ein Mietshaus geerbt: In Axel Peterséns und Mans Manssons Wettbewerbsfilm „The Real Estate“ wird eine alte Anarchistin zum menschlichen Torpedo.

Me too? Aber nicht mit ihr! Nicht mit Nojet. Wer Erholung sucht von den Diskursen unserer Tage, ist bei Axel Peterséns und Måns Månssons Film „Toppen av Ingenting" genau richtig.

Nur ein einziges Mal droht Nojet wirklich zum Opfer zu werden: beim Friseur, allererste Szene. Vermutlich wurde so noch nie die Genesis einer Schüttelfrisur gedreht. Den Kopf nach vorn beugen, die Hand des Coiffeurs im Nacken spüren und die Haare fliegen. So wie die beiden Stockholmer Regisseure Axel Petersén, Jahrgang 1979, und Måns Månsson, Jahrgang 1982, den Sound eines gewöhnlichen Föns in ein akustisches Inferno übergehen lassen, weiß man, hier sind keine Anfänger Werk.

Eine 68-jährige Achtundsechzigerin mit anarchistischem Erbgut

Offiziell wird Friseur übersetzt mit „Fachkraft zur Pflege des Kopfhaares“. Wie wir heute eben so reden. Es heißt „die Kraft“. Haben die Männer schon einmal darüber nachgedacht, was das bedeutet? Dürfen sie den Frauen wirklich die Kraft überlassen, sollten sie nicht einen linguistischen Gleichstellungsausschuss bilden?

Schwedische Filme sind Filme aus einem Land, das vieles schon hinter sich hat, was wir noch vor uns haben, zum Beispiel die Diktatur der bedingungslosen Gleichheit. Wahrscheinlich auch deshalb hat Nojet (Léonore Ekstrand) einst das schwedische Folkhemmet verlassen. Folkhemmet bedeutet „Volksheim“, der Sozialdemokrat Per Albin Hansson hat das Wort im Jahr 1928 geprägt, und seit 1928 wird es errichtet. Nojet, die Frau beim Friseur, ist eine Achtundsechzigerin, genauer: eine 68jährige Achtundsechzigerin, da trägt man viel anarchisches Erbgut in sich und passt nur begrenzt in ein Volksheim. Aber nach Spanien, in den vergleichsweise ewigen Sommer, auch den der Liebe, passte Nojet, wie sie fand, sehr gut. Dass sie nun wieder da ist, hat einen einzigen Grund: Ihr Vater ist gestorben, sie erbt ein Mietshaus, und jeder Hinterbliebene sollte wenigstens mit gepflegtem Haupthaar auf einer Trauerfeier erscheinen. Er sollte nach Möglichkeit auch nicht Bridge spielen, aber das macht sie trotzdem, und vielleicht ist es auch in Ordnung, denn ihr Vater leitete den örtlichen Bridgeclub.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Nojet besichtigt ihr Erbe. Ein verwahrlostes Siebzigerjahre-Mietshaus mitten in Stockholm. Sie fotografiert die Namensschilder an den Türen, klopft an, stellt sich den missvergnügten Mietern als Eigentümerin des Hauses vor. Das kommt nicht gut an, denn im Grunde passt ein Eigentümer gar nicht nach Schweden. Oder wem gehört das Folkhemmet, das Volksheim? Doch wohl dem Volk!

Und sind nicht auch Mietverträge Relikte aus längst überwundenen Zeiten? Auch ist es eher unüblich, eine Wohnung vom Eigentümer zu mieten. Man mietet sie vom Vormieter, der sie wiederum vom Vormieter mietete, mit großem Extrabonus, denn Wohnraum ist knapp in Schwedens Hauptstadt Stockholm, äußerst knapp, die Immobilienpreise so gar nicht zu stoppen. So wie Nojet da durch die tristen Flure ihres Hochhauses geht, vereinsamt sie von Tür zu Tür. Sie gehört nicht mehr hierher, aber nach Spanien gehört sie auch nicht. Vielleicht wäre Heimat dort, wo die Kinder sind? Sie hat keine. Was nun beginnt, würden zeitgenössische Intelligenzen wohl vorzugsweise so formulieren: Nojet radikalisiert sich.

Rambo im Wollpullover. Nojet (Léonore Ekstrand) radikalisiert sich.
Rambo im Wollpullover. Nojet (Léonore Ekstrand) radikalisiert sich.

© Flybridge

Es ist Leonore Ekstrands Film. Die Kamera tritt diesem alten Gesicht, diesem alten Körper nahe, viel zu nahe, sie verbirgt nichts. Aber da ist eine Kraft in ihr, etwas Unzähmbares, das sie gleichsam unverwundbar macht, das jede Zudringlichkeit beantwortet. Nein, Altern ist nichts für Feiglinge.

Axel Petersén und Måns Månsson sind nicht neu auf der Berlinale; Peterséns größter Erfolg hier war im Jahr 2011 sein Film „Avalon". Die Laiendarstellerin Léonore Ekstrand spielte darin eine Nebenrolle, die unversehens zur Hauptrolle wurde. „Toppen av Ingenting“ (auf englisch: „The Real Estate“) hat Petersén nun ganz für sie geschrieben. So warm das Volksheim einst gemeint war, so kalt sind seine ungezogenen Kinder. Oder sollte man schon von Enkeln sprechen?

Nojet will verkaufen und kann es nicht mit den undurchdringlichen Verhältnissen in ihrem Haus. Und der Hausverwalter gehört zur Familie, er hat die gesamte 7. Etage privat vermietet. Ihr Halbneffe ist ihr natürlicher Gegner und die Hausbewohner organisieren sich. Letztlich wirken sie alle wie Heiminsassen, Volksheiminsassen, die sehr wütend werden können, wenn einer ihre Gewohnheiten bedroht. Doch genau in diesem fremden Blick liegt auch das Trash-Risiko dieses filmisch so instinktsicher gemachten Stück Kinos: Nojet hat kein wirkliches Gegenüber.

Die Verwandlung einer alten Frau in einen menschlichen Torpedo macht zwar den Reiz und die anarchische Stärke von Petersén und Månson aus, und doch bringt sie ihn letztendlich zu Fall.

19.2., 10 Uhr (Haus der Berliner Festspiele) und 21 Uhr (Friedrichstadtpalast); 25.2., 12.15 Uhr (Haus der Berliner Festspiele).

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false