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Regisseur Wim Wenders mit Juliano Ribeiro Salgado

© Movie Picture/Donata Wenders

"The Salt of the Earth": Wim Wenders verzückt Cannes

Wim Wenders ist der einzige deutsche Regisseur, der es in diesem Jahr zum Festival nach Cannes geschafft hat. Nun begeistert sein dokumentarisches Porträt des großartigen Fotografen Sebastião Salgado. "The Salt of the Earth" wurde in der Nebenreihe "Un certain regard" gefeiert.

Damit hatte wohl niemand gerechnet: Erst machen sich die Deutschen in den Programmreihen von Cannes – wie so oft – nahezu unsichtbar, und dann dieser umwerfende Moment. Stürmischer Applaus, von vor Angerührtheit heiseren Bravos grundiert, erhebt sich nach der Vorführung von „The Salt of the Earth“; die Zuschauer drängen in die hell beleuchtete Saalmitte, wo sich die Regisseure Wim Wenders und Juliano Ribeiro Salgado erhoben haben, und so stehen die Beiden minutenlang in dem von Parkett und Rang auf sie einprasselnden Beifall, staunend und strahlend. Und spürbar zögernd laufen die Leute dann auseinander, hinaus in die abendlich summende Stadt oder in den nächsten Film.

Als „documentaire de création“, als Dokumentarfilm von Künstlern hatte Thierry Frémaux das in der Nebenreihe „Un certain regard“ gezeigte Gemeinschaftswerk angekündigt – und tatsächlich ist es das eines Trios: Der dritte Künstler im Bunde, der als Bildbeschreibender, Nachdenkender im Schwarz-Weiß-Film „The Salt of the Earth“ seine eigene Hauptrolle so bescheiden wie imponierend ausfüllt, ist Sebastião Salgado, Fotograf und Vater von Wenders' Co-Regisseur. Sein Werk und, begleitend dazu, chronologische Stationen seines Lebens stehen im Mittelpunkt dieser dreistimmigen, mehrsprachigen Partitur, die von den Schrecken des späten 20. Jahrhunderts erzählt und sich zugleich als Hymne auf das Leben versteht.

"Wir Menschen sind besonders wilde Tiere", erkannte Salgado, Protagonist von Wenders' Film 

Früh und furchtlos wechselte der Brasilianer, der zunächst Wirtschaft studierte, zur Fotografie. Und begann, erst als Fotoreporter für Agenturen wie Gamma und Magnum, Reisen durch Südamerika und bald die ganze Welt. Berühmt geworden ist der heute 70-Jährige mit seinen Reisen ins „Herz der Finsternis“, wie Wim Wenders den afrikanischen Kontinent in einem seiner sparsamen Off-Kommentare bezeichnet. In den achtziger und neunziger Jahren dokumentierte er Hungersnöte im Sudan und das Massenmorden in Ruanda, aber auch die brennenden Ölfelder im Irak und die Flüchtlingsströme im zerfallenden Jugoslawien.

„Hass ist ansteckend“, lernte er aus diesen oft jahrelangen Reisen – und: „Wir Menschen sind besonders wilde Tiere“. Als er „an nichts mehr glaubte“, zog er sich zunächst auf das Landgut seines Großvaters im brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais zurück und forstete dort, einer Vision seiner Frau folgend, binnen zehn Jahren das verdorrte Land wieder auf. Auf diese Wiedererfindung des Regenwalds, das „Instituto Terra“ wurde inzwischen zum Nationalpark erklärt, folgten erneut Reisen rund um den Globus – diesmal allerdings, um die Schönheit des Planeten einzufangen.

Mutiger Schritt: Auf Salgados Sozialreportagen folgten Bildbände über die Schönheit der Natur

„Genesis“ heißt der jüngste von Salgados Bildbänden – und die stärksten Fotos aus vielen Jahrzehnten, ob die grausigen oder die beglückenden, kommentiert er mit der leisen Erschütterlichkeit des gereiften Mannes, der sehr, sehr vieles gesehen hat. Unerschrocken war er ebenso in Choleragebieten unterwegs wie auf winzigen Booten, um Wale aus nächste Nähe zu fotografieren. Freunde hätten ihn, so sagt er, eindringlich gewarnt, als bekannter Protagonist sozialdokumentarischen Arbeitens plötzlich zur Naturfotografie zu wechseln. Das mögliche Imageproblem aber kümmerte ihn wenig – was jeder sofort begreift, der seine bewegenden Fotos des Grauens gesehen hat. „Das erste Mal fotografierte ich andere Tiere“, sagt er, andere Tiere als die Menschen.

Ein bisschen esoterisch, zumal filmmusikalisch entsprechend untermalt, könnte einem diese Spätphase im Werk Salgados erscheinen, wenn da nicht das Wissen um die Vorgeschichte wäre. So wirkt der radikale Schritt des Meisterfotografen absolut stimmig, als bewusste Entscheidung für die Hoffnung. Und sie vor allem ist es, die die eben noch fast zwei Stunden mucksmäuschenstill konzentrierten Zuschauer zu Begeisterungsstürmen hinreißt und, mehr noch, vereint – in Cannes, wo Wim Wenders vor exakt 30 Jahren mit „Paris Texas“ die Goldene Palme gewann.

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