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Theater: Das Heil und die Armee

Späte Moral: Peter Zadek inszeniert in Zürich "Major Barbara", G. B. Shaws schwarze Komödie. Vielleicht ein paar Jahrzehnte zu spät.

Diese Komödie ist einziger sarkastischer Witz. Andrew Undershaft, der mächtigste Rüstungsfabrikant Englands, kauft die konkursreife Heilsarmee, nicht aus plötzlich erwachter Caritas, sondern um seiner Tochter Barbara, einer glühenden Heilsarmistin, zu beweisen, dass das Gute in der kapitalistischen Welt nicht rein bleiben kann, sondern mit dem Bösen paktieren muss. Damit nicht genug: Barbara zeigt sich lernwillig, tritt aus der Salvation Army aus und kümmert sich fortan um die vorbildlichen Sozialeinrichtungen in der Kanonenfabrik des Vaters.

Zynisch? Politisch unkorrekt? Aber ja. Bernard Shaw, der Autor von „Major Barbara“, hat sich mit der diabolischen Komödie damals 1905 links wie rechts jede Menge Ärger eingehandelt. Und wenn der große alte Peter Zadek sie nun am Zürcher Schauspielhaus im Pfauen inszeniert hat, fragt man sich vor allem: wieso erst jetzt? Welche Wirkung hätte Zadek, geradezu der Erfinder der politischen Unkorrektheit am Stadttheater, zur Zeit der bundesdeutschen Wiederaufrüstung erzielen können! Oder in den linkskorrekten Siebzigern! (Damals waren ihm die anderen Iren näher: der anarchistische Brendan Behan, der poetische O’Casey, auch der Dandy Oscar Wilde).

Um es gleich zu sagen: Der Zürcher Premierenabend war flau, plätscherte einschläfernd dahin, und wenn eine der ungezählten Pointen mal zündete, schreckte man dankbar auf. Obwohl doch das Sujet Moral und Kapitalismus heutzutage wahrhaft auf der Tagesordnung steht. Obwohl an großen Namen – Julia Jentsch, Robert Hunger-Bühler, Nicole Heesters, August Diehl, gar Jutta Lampe in einer Zehn-Sätze-Rolle – nicht gespart und drei Monate lang geprobt wurde. Und obwohl sich Zadeks Stabliste (Choreografie, Kampftraining etc.) wieder einmal doppelt so lang liest wie die Besetzung.

Sicher, „Major Barbara“ gibt fast unlösbare Probleme auf. Die Konversationskomödie ist ein Genre, das bei uns völlig aus der Mode ist. Den Schauspielertypus, der es beherrscht, gibt es kaum mehr. Die gnadenlose Eloquenz, mit der Shaw seine Figuren ausstattet – es war seine eigene –, überfordert aber nicht nur die Darsteller, sondern auch das Publikum. Dahinter steckte einst der robuste, fröhliche Optimismus, dass die Welt im vernünftigen, humorvollen Dialog eine Spur klarer, vielleicht sogar besser werden kann: Nichts ist unserem zeitgenössischen Theater fremder. Es trägt die Mode der Apokalypse und der Verzweiflung.

Vieles hängt ab von der Überzeugungskraft des diabolischen Rüstungsfabrikanten. Seinen Namen könnte man mit „Ungeschoren“ übersetzen. Shaw hat ihm eine komplizierte Biografie gegeben. Er wurde als Findlingskind adoptiert, gemäß dem Familienbrauch, dass das Unternehmen nie dem leiblichen Sohn vererbt werden darf, sondern einem vitalen Emporkömmling. So geht das seit der Zeit Jakobs I., und auch Undershafts Sohn Stephen darf sich keine Hoffnung machen. Das ist der Grund, weshalb sich Lady Britomart, Andrews adlige Gattin, mit Andrew früh entzweite. Die Komödie setzt damit ein, dass man sich nach langer Zeit zwecks nochmaliger Diskussion des Erbfalls und der angemessenen Apanage der heiratswilligen Töchter Barbara und Sarah trifft.

Andrew Undershaft hat zwei Maximen: Armut ist ein Verbrechen, und Geld ist der höchste Wert. Um Armut aus der Welt zu schaffen, muss man als Kapitalist Profit machen, und dieser darf auch aus einer „Fabrik des Todes“ fließen. Schamlos sagt das dieser Mephisto, der das Böse will und das Gute schafft, jedem ins Gesicht – „unashamed“ ist das Motto der Undershafts. Fällt einem da nicht Peter Zadek ein, der aus der englischen Emigration zurückkehrte und ab Ende der Fünfziger dem deutschen Publikum die moralischen Illusionen verdarb? Ja, vor bald dreißig Jahren wollte er schon einmal „Major Barbara“ inszenieren, mit Boy Gobert, wie man weiß. Gobert starb, das Projekt wanderte zu Gert Voss. Da Voss irgendwann nicht mehr wollte, ist es jetzt Robert Hunger-Bühler, Peter Steins Mephisto.

Durch den hell bleibenden Saal kommt er geschlendert, eleganter Mantel, Hut, Anzug, erklimmt die Bühne Karl Kneidls – eine rätselhafte Mauer aus bunt leuchtenden Glasbausteinen, davor sparsames Mobiliar – und ist ein Fremder in der eigenen versammelten Familie. Das macht Hunger-Bühler sehr schön, wie er auf dem genoppten Ledersofa sitzt, Knie eng, mit Schuhspitzen tippend, und mit leiser, träumerisch retardierender Stimme die scharfen Boulevardattacken der Nicole Heesters (Lady Britomart) kontert.

Ja, das kann man sich vorstellen: der mächtigste Mann als leiser Introvertierter. Aber er müsste einen frischen, fröhlichen Konterpart haben, eine Barbara, die ihn fast niederrennt. (Shaw ließ sich für die Figur von dramatisch begabten Heilsarmeemädchen inspirieren, die er im Londoner East End erlebte, wo er selber als sozialistischer Agitator wirkte.) Julia Jentsch ist das leider nicht. Sie wirkt klamm, unfrei in Stimme und Temperament, eingeschnürt in die blaue Uniform mit schwarzem Strohhut und Kinnband – vor Jahren sah man in Bochum so (aber wie anders!) Therese Affolter als Brechts heilige Johanna der Schlachthöfe, der Shaws Barbara einiges verdankt.

Wenn sich die Jentsch im zweiten Akt im Hof der Heilsarmee, von ihrem Vater beobachtet, mit Suppe und Bekehrungseifer den Ärmsten widmet, tut sie das nicht zupackend, sondern abgehoben, hölzern. der Höhepunkt gehört hier Jutta Lampe, der Heilsarmee-Generalin Mrs. Baines, die von Undershaft den Scheck in Empfang nimmt – eine herrlich altjüngferliche, großkulleräugige Bravournummer. In schräger Travestie lässt Shaw drauf die vernichtete Barbara den Akt schließen: „O Gott, warum hast du mich verlassen?“

Aber vielleicht war ihr Engagement für die Underdogs ja ohnehin nur eine temporäre Rolle, die die verwöhnte höhere Tochter nie wirklich ankratzte? Darauf weist die schnelle Wandlung im dritten Akt, in der modernen Waffenschmiede des Vaters, wenn Barbara mit ihrem Verlobten, dem Griechisch-Lehrer Adolphus Cusins, stracks auf das Happy End zusteuert. Diesem intellektuellen Schlitzohr – August Diehl macht das sehr hübsch – gelingt es, sich überraschend als den gesuchten „Findling“ und hiermit als passenden Erben zu präsentieren.

Nach zweieinhalb Stunden ist Zadeks ruckelnder, trödelnder Komödienzug – in der Neuübersetzung Elisabeth Plessens – an die Endstation gelangt. Und jetzt, beim Applaus, passiert etwas Seltsames. Showmusik rauscht auf, die Darsteller tanzen, singen und swingen in der Chorus Line, als beginne es wieder von vorn: leicht, beschwingt, wie ein Musical. Also so, wie man es sich gewünscht hätte. Und dann kommt der 83-jährige Peter Zadek sehr langsam, sehr gebrechlich, von Frauen gestützt, auf die Bühne. Und Jutta Lampe gibt ihm einen gerührten theaterhistorischen Kuss. Bremen, die Sechziger. Ja, damals hätte es sein sollen.

Andres Müry

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