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RAF-Theaterprojekt

© dpa

Theater: Denk ich an Stammheim

Bühne des Terrors: Mit drei Uraufführungen startet das Schauspiel Stuttgart sein RAF-Theaterprojekt. Drei Wochen voller Doku-Theater, Musik und Diskussionen.

Fünf Schauspieler klettern auf einen Geldautomaten. Fünf Schauspieler fallen aus dem Kulissenfenster, eine sich steigernde Slapsticknummer. Fünf Schauspieler taumeln vom Drehort zur Bühne und zurück. Was hat das mit der RAF zu tun? René Pollesch ist wie immer nicht einfach zu verstehen.

31 Jahre nach dem Selbstmord von Ulrike Meinhof, 30 Jahre nach den Selbstmorden von Baader, Ensslin und Raspe in Stammheim wird das Schauspiel Stuttgart zum Ort von Erinnerung und Auseinandersetzung. Mit drei Projektwochen voller Doku-Theater, Musik und Diskussionen, mit verschiedenen Stimmen wie der des damaligen Bürgermeisters Manfred Rommel, mit dem damaligen Schauspielschüler Harald Schmidt und dem Stammheimer Turnverein. Corinna Harfouch liest „Elektra“-Texte, ein Chor spricht Manifeste des Widerstands – der Bogen ist weit gespannt.

Die drei Uraufführungen zum Auftakt des Stuttgarter RAF-Projekts sind schon mal ein Volltreffer mitten ins Herz, ja ins Zentrum des kollektiven Vergessens, der Lügen, des Schweigens, der linken wie rechten Befangenheiten. „Mogadischu Fensterplatz“ nach dem Roman von F. C. Delius sind halb erzählte, halb gespielte Erinnerungen von drei Passagieren, dem Kopiloten und einem Terroristen (Regie: Regina Wenig). Das ist manchmal klischeehaft, aber es beschämt auch, nimmt mit. Die angehäuften Exkremente in den Toiletten während der 100 Stunden Gefangenschaft. Der Gestank, die Hitze im Flugzeug, bis zu unvorstellbaren 60 Grad. Die Angst. Die banalen Gedanken der 87 Geiseln. Weiß noch jemand, dass die Landshut auf fünf Flughäfen notlandete, bis Somalia die Landung in Mogadischu zuließ, samt GSG-9-Einsatz? Gegenleistung der BRD: 25 Millionen Kredit und ein Krankenhaus.

In dem kleinen Depot in Stuttgart ist es heiß, zu heiß. Aber 60 Grad? Fünf Tage? Der Rechtsstaat lässt sich nicht erpressen? Weder für Schleyer noch für Mallorca-Touristen? Fragen über Fragen.

Auch René Pollesch häuft Fragen auf in seinem neuen Stück „Liebe ist kälter als das Kapital“. Mit gestanzten Sätzen, Wiederholungen. Er und seine Schauspieler Katja Bürkle, Silja Bächli, Florian von Manteuffel, Christian Brey und Bijan Zamani sowie Kameramann Alexander Schmidt zeigen die Welt als Schein, als Bühne vor Pappkulissen, als Drehort Backstage. Keine Verweigerung, kein Neinsagen ist mehr möglich, Verzweiflung wird nur noch gespielt. Und dann kommen beiläufig ein paar Provokationen: Beim Berliner Schahbesuch gab es noch Wirklichkeit. Oder: Man stelle sich vor, Spekulanten wollen die Twin Towers sprengen ...

Immer weiter geht es mit den holprigen Auftritten der Schauspieler, gekleidet in farblich aufs Feinste abgestimmte Abendgarderobe (Kostüme: York Landgraf), und weiter geht es mit den PolleschSätzen: „Dieses Multitasking, ich halt’s nicht mehr aus, gibt es denn überhaupt keine Realität mehr?“ So umschwirrt dieses Stück leicht, elegant und atemlos die Erkenntnis, dass wir nur mitspielen können im falschen Spiel, in dem sogar die Liebe dem Kapital dient.

Zum Dritten: „Peymannbeschimpfung“ von Rimini Protokoll. Peymann war in den Siebzigern Intendant in Stuttgart, erfolgreich, links, aufmüpfig, bis es zum Skandal kam: Er sammelte Geld für die Zahnarztkosten der inhaftierten Terroristen. Es kamen Briefe, körbeweise, die liest der per Video eingespielte Peymann selbst vor, mit höhnischem Vergnügen. Unten auf der Bühne erzählt der Rüstmeister des Staatstheaters Stuttgart Interna von damals und zeigt per Google Earth zu jedem Brief die angegebene Adresse, Apfelallee 5, Korntal, oder Weißenhofweg 1, Stuttgart, oder Celle oder Garmisch-Patenkirchen. Auch aus dem Urlaub wurde geschmäht.

Denk ich an Stammheim: Eine Lehrerin berichtet von ihrem Leben dort, als Kind kam sie mit Eltern und zwei Geschwistern, geflohen aus der DDR, sie lebten mit zwei anderen Flüchtlingsfamilien in drei Zimmern. Auf der Bühne zeigt der Turnverein Stammheim, was er kann, und er zeigt auch, wie die normalen Stammheimer Bürger aus dem hell erleuchteten Weg um die Justizvollzugsanstalt ihren Trimm-dich-Pfad machen, wie sie joggen, skaten und Rad fahren auf „Deutschlands bestbewachtem Sport-Parcour“, begleitet von den Kommentaren der Häftlinge. Die Turnhalle steht direkt neben dem Gefängnis. Tröstlich zu sehen, wie Jung und Alt turnen, tanzen, hip-hoppen. Ein stämmiger Junge drischt auf Tischtennisbälle ein, als wären es seine Todfeinde: das größte Talent des Vereins. Stammheim ist ein Stuttgarter Stadtteil, dort haben Menschen ihre Heimat, dort leben und turnen sie. Und es gibt dort die JVA.

Am Stuttgarter Schauspiel werden noch über dreißig Veranstaltungen folgen, auch ein Gespräch mit dem damaligen Stuttgarter Bürgermeister Rommel, der Peymann nicht entlassen wollte und der Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Karl-Heinz Raspe selbstverständlich auf dem Stuttgarter Dornhaldenfriedhof beerdigen ließ.

Am Ende von „Mogadischu Fensterplatz“ kommt ein kleines Mädchen auf die Bühne, die „Zukunft“, die bei der ersten Notlandung die Bühne verließ, pafft eine Zigarette wie Helmut Schmidt, spricht Sätze von Helmut Schmidt, kalt, verklausuliert. Hoffentlich ist die Liebe nicht wirklich kälter als das Kapital.

Projektwochen bis 30. September, dann vom 6. – 14. Oktober, 14. - 18. November. Infos: www.staatstheater.stuttgart.de

Ulrike Kahle-Steinweh

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