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Kultur: Theater der Unterdrückten

Mit „Move Berlim“ leitet Wagner Carvalho sein erstes Festival. Der Schauspieler und Tänzer präsentiert eine neue brasilianische Tanzszene

Von Sandra Luzina

Es ist immer dasselbe. Wenn Wagner Pereiro de Carvalho sich jemandem vorstellt, muss er erst mal erklären, was es mit seinem Namen auf sich hat. Und dass er keine deutschen Vorfahren hat. „Wagner ist ein beliebter Vorname in Brasilien – so wie Beethoven oder Mozart auch“, lacht der Mann mit den Afrozöpfchen, der auf Deutsch Wagner Birnbaum von Eiche hieße.

Dieser fantasievolle Name garantiert ihm hierzulande nicht nur jede Menge Aufmerksamkeit, sondern auch Scherereien – lange Wartezeiten bei der Ausländerbehörde muss er in Kauf nehmen. Doch scheint er auch berufen, als künstlerischer Leiter von „Move Berlim“ ein anderes Brasilienbild zu vermitteln und eine unbekannte Szene in die Stadt zu holen. So will das erste Festival für zeitgenössischen Tanz, das mit 250 000 Euro vom Hauptstadtkulturfonds unterstützt wird, eine neue Landkarte skizzieren – jenseits aller Samba- und Karnevalklischees.

Wie hartnäckig sich diese Zuckerhut-Klischees halten, hat der Schauspieler und Tänzer, der 1990 mit einem Stipendium des Goethe-Instituts nach Berlin kam, am eigenen Leibe erfahren. „Wenn du als Afrobrasilianer nach Deutschland kommst, ist das ein Schock. Du wirst hier so positiv aufgenommen. Du bist eine Attraktion. Das ist Rassismus mit umgekehrtem Vorzeichen“, sagt Carvalho. Ihn ärgert nicht nur das „falsche Bild von der brasilianischen Frau“, er fügt hinzu: „Auch die brasilianischen Männer sind Sexobjekte.“ Und der Tanz scheint wie geschaffen zu sein für diese Fantasmen von der schönen fremden Frau und dem schönen fremden Mann. Carvalho zitiert die bekannte brasilianische Tanzprofessorin Helena Katz, die ihn ihren „Zehn Thesen zum brasilianischen Tanz“ vehement die Stereotypen attackiert: Motive wie den Hintern der Mulattin aus der Samba-Schule oder das Girl From Ipanema, das auf dem Weg zum Strand dem hübschen schwarzen Capoeira-Tänzer begegnet.

Vom brasilianischen Tanz zu sprechen, geht ebenfalls an der Vielfalt brasilianischer Tänze vorbei. So hat sich das Festival ausdrücklich vorgenommen, die ästhetische, ethnische und regionale Heterogenität der Tanzszene vorzustellen. „In den letzten 15 Jahren haben sich viele ,periphere Zentren’ jenseits der Achse Rio de Janeiro/São Paulo entwickelt. Um deren unterschiedliche Ansätze geht es.“

Einige Wochen reiste Wagner Carvalho zusammen mit seinem Co-Leiter Björn Dirk Schlüter durch das riesige Land, von Recife im Nordosten bis nach Florianópolis im Süden, er besuchte auch seine Heimatstadt Belo Horizonte, eine 3,8-Millionen-Stadt im Landesinnern, mitten im Amazonasgebiet. Dass sich die Gegensätze von Zentrum und Peripherie, Lokal und Global immer mehr verwischen, zeigen die sechs Produktionen, die in Europa erstmals gezeigt werden. Denn obwohl sie in lokalen Traditionen wurzeln, sind die Choreografen längst in der Postmoderne angekommen. Und auch eine spezifische brasilianische Begabung offenbaren die Tanzstücke: „Wir haben es immer verstanden, alle möglichen Einflüsse aufzunehmen. Was von außerhalb kommt, wird einverleibt, so dass etwas Neues entsteht."

Wagner kramt ein Foto hervor, das die beiden mit Gilberto Gil zeigt. Die Bossa-Nova- Legende ist Kulturminister in der Regierung des neuen Präsidenten Luiz Inácio „Lula“ da Silva, und Carvalho schwärmt vom Schirmherrn des Festivals, der gerade durch ein großes Friedenskonzert Aufsehen erregte.

In die Politik der neuen Regierung setzt Carvalho große Hoffnungen. Und er erzählt, dass Präsident Lula ein Ministerium für die Gleichstellung der Schwarzen gegründet hat. Denn Diskriminierung ist in Brasilien immer noch an der Tagesordnung. „Die Armut in Brasilien hat eine Farbe – sie ist schwarz. Die Schwarzen landen in den Favelas, im Gefängnis oder in der Psychiatrie.“ Ein ausschweifendes Erzähltemperament vereint der Tänzer mit einer kämpferischen Rhetorik. Schon lange ist er in der Schwarzenbewegung engagiert und flammender Redner. Und er fordert: „Jeder muss sich definieren.“ Der Sohn eines weißen Vaters portugiesisch-spanischer Abstammung und einer schwarzen Mutter mit Bantu-Vorfahren, sagt von sich selbst: „Ich bin negro.“ In dem Riesenland Brasilien, wo 135 Hautfarben gezählt wurden, ist Schwarzsein zuallererst eine politische Identität.

Schon mit 16 Jahren – noch unter der Militärdiktatur – zog Carvalho mit Augusto Boal und dessen „Theater der Unterdrückten“ durchs Land. Nach Berlin kam er wegen Bert Brecht. Hier hat er binnen weniger Jahre ein Netzwerk mit aufgebaut, das schnelle Hilfe leistet für Illegale oder für Brasilianerinnen, die von ihren deutschen Ehemännern misshandelt werden. Er hat am Grips-Theater und Berliner Ensemble sowie in Neuköllner und Hellersdorfer Schulen gearbeitet. „Das Wichtigste ist es, Ängste abzubauen“, sagt Carvalho, der seine pädagogische Ader nicht verheimlichen kann.

Tanz ist die Kunst der Begegnung. Wagner Carvalho hofft, mit dem Festival eine Brücke zu bauen. Und er hofft auf die Nachhaltigkeit des Austauschs. Deshalb hat er schon Kontakt zu Universitäten und Ausbildungsinstituten aufgenommen. Und er traf sich mit prominenten Berlin-Brasilianern wie dem Fußballer Luizao.

Apropos Fußball: Die Deutschen, Vize- Weltmeister, könnten sich von Weltmeister Brasilien einiges abschauen, findet Carvalho. „Tanz ist bei uns ja zuallererst ein soziales Phänomen. Überall wird getanzt – und auch Musik ist vor allem zum Tanzen da.“ Und er stellt klar: „Tanz in Brasilien gehört dem Körper, nicht dem Kopf.“

Wagner Carvalho ist ein Tausendsassa, ein unermüdlicher Aktivist, ein gewitzter Charmeur und ein verspielter Sinnenmensch. Woher nimmt er eigentlich seine Energie? „Wenn Sie meine Mutter kennen würden, würden Sie verstehen, woher meine Kraft kommt. Sie ist die Radikale.“ Den Kampfgeist hat er von ihr, erzählt er, sie habe ihm aber auch Respekt und Geduld beigebracht. Zum ersten Festival ihres Sohnes kann sie leider nicht kommen, weil sie gerade ihr Studium aufnimmt. „Ideen können etwas bewegen“ – davon ist Familie Carvalho überzeugt.

Move Berlim, 4.–17. April, im Theater am Halleschen Ufer und im Hebbel-Theater, Infos unter www. moveberlim.de

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