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Schauspieler Nile Koetting spielt eine Szene aus dem Theaterstück "The Past" in der Schaubühne.

© dpa

Theater: Die Zeit und das Immer: "The Past" an der Schaubühne

In „The Past“ erforscht die Choreografin Constanza Macras fantasievoll Gedächtniskunst und Gedenken - und knüpft dabei immer wieder an die Stadtgeschichte Dresdens an.

Die Zeit ist keine Katze. Also nichts, worauf man mit dem Finger zeigen, was man Kindern auf einem Bild veranschaulichen könnte. Auch die übliche Metapher vom Fluss läuft ins Leere. „Zeit“, heißt es hier mit dem britischen Physiker Julian B. Barbour, „existiert nicht.“ Sie ist bloß ein anderes Wort für Veränderung. Insofern spielt es für unsere Erinnerung keine Rolle, wie lange etwas zurückliegt. Sondern nur, welche Bilder von früher überhaupt geblieben sind. Wie fremd oder vertraut sie uns erscheinen. Und welche Erzählungen wir daraus konstruieren.

„The Past“ heißt der Abend, mit dem die Choreografin Constanza Macras Gedächtniskunst und Gedenken erforscht. Nach der Uraufführung im Dresdner Festspielhaus Hellerau hatte das Stück jetzt an der Schaubühne seine Berliner Premiere. Es beginnt in der Antike, mit einem Vortrag über die ars memoriae. Ein Kniff dieses Gedächtnistrainings war es, zu Erinnerndes mit Orten zu verknüpfen, einer Halle, einem Wandelgang, einer Skulptur. Das klingt abstrakt, wird aber von Macras gleich ironisch gebrochen, indem der vortragende Tänzer Luc Guiol auf einer Treppe des mehrgeschossigen Stahlgerüst-Hauses im Zentrum der Bühne (Laura Gamberg und Chika Takabayashi) ins Stolpern gebracht wird. Kleiner Treppenwitz der Geschichte – und vielleicht einen Verweis darauf, dass es keinen Boden gibt, wo es um Fragen der Erinnerung geht.

Überhaupt bleibt die Inszenierung trotz zunehmender Themenschwere über weite Strecken assoziationsreich schwebend. Die Erinnerung, heißt es einmal, siedele am selben Seelenort wie die Fantasie. Entsprechend fabulierfreudig verwandeln sich die neun Tänzerinnen und Tänzer von Macras’ Ensemble DorkyPark in siamesische Zwillinge, in Wesen mit Kleiderkopf oder Flügeln aus Farn, in Karnevalsgeschöpfe mit Totenmasken. Schon im ersten Bild schält sich der Tänzer Nile Koetting – ein leptosomer Typ mit faszinierend fragiler Körperlichkeit – aus einer karierten Plastiktasche und performt mit seltsam verdrehten Armen eine Art Marionettenfigur. Eine Reise ins Deutungsoffene, aber immer wieder mit konkreten Erinnerungsbezügen.

Anknüpfung an die Stadtgeschichte Dresdens

So lässt Macras Gedächtnismaterial ihrer Performer einfließen, Erzählungen aus Kindheit und Jugend zumeist, die von getöteten schwangeren Spinnen oder vom Alleinsein unterm Christbaum handeln. Tänzerin Ana Mondini berichtet von den bislang 18 Umzügen in ihrem Leben. Miki Shoji erzählt von einer Sozialwohnung, die sie in Japan bewohnt hat und vor deren Tür eine geisteskranke alte Nachbarin traditionelle Tänze in Unterwäsche vollführte. Mehrfachbelichtete Momentaufnahmen, skurril bis traumverloren. Nur das Ungewöhnliche, Neue ankere dauerhaft im Kopf, heißt es einmal.

Vor allem aber knüpft „The Past“ immer wieder an die Stadtgeschichte Dresdens an. Und erzählt von überschriebenen Orten wie dem abgebauten Lenin-Denkmal oder dem Schauspielhaus, das schon 1949 wiedereröffnet wurde, vor allem aber von der Zerstörung der Stadt kurz vorm Ende des Zweiten Weltkriegs. Zu diesem Kriegskapitel hat Macras Zeitzeuginnen befragt, deren oft staunenswert detailreiche Schilderungen von Bombenangriffen, Trümmerbergungen oder grassierender Russenfurcht von den Performern oder vom Band wiedergegeben werden. Erinnerung, das legt dabei ein intensives Duett zwischen Johanna Lemke und Emil Bordás nahe, ist auch Körperarbeit. Zumal wenn die gespeicherten Bilder nichts von ihrer Erschütterungskraft verloren haben.

Erinnerungen an Walter Benjamins "Engel der Geschichte"

Zusammengehalten aber wird dieser starke Abend von der Komposition des Italieners Oscar Bianchi, mit dem Macras zum ersten Mal arbeitet. Bianchi hat eine atonale, improvisiert wirkende Partitur ersonnen, die Miako Klein und Michael Weilacher überwiegend mit Geige, Flöten und Schlagwerk intonieren. Wobei auch Satellitenschüsseln oder biegsame Plastikscheiben zum Klingen gebracht werden können. Eine irritierende, zum Thema passend flüchtige Musik.

Am Ende bringt ein Windrad den Sturm. Auch das lässt zahlreiche Deutungen zu. Nicht zuletzt erinnert es an Walter Benjamins „Engel der Geschichte“, dem die Vergangenheit als gewaltiger Trümmerberg erscheint, während er unaufhaltsam Richtung Zukunft treibt.

Wieder am 30. 11. und 1. 12., 20 Uhr

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