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Gosch

© David Baltzer / Zenit

Theater: Eine Sprache der Liebe

Berlins Theaterwunder: Wie der Regisseur Jürgen Gosch Publikum und Schauspieler berührt.

In der Berliner U-Bahn kann man in diesen Tagen Menschen erleben, die nach einem Besuch von Goschs "Onkel- Wanja"-Inszenierung von einem "Theater der wirklich anderen Dimension" sprechen. Besucher der Filmfestspiele halten sich einen Abend für Goschs "Möwe" frei und bitten um Hilfe bei der Beschaffung von Karten für die ewig ausverkaufte Aufführung. Die Schülerin eines Berliner Gymnasiums, die während des Unterrichts "Onkel Wanja" las, weil sie am Abend die Aufführung sehen sollte, löste bei Lehrern, die ihr das Reclamheft wegnahmen, Schreie des Neides aus. Nach den Vorstellungen von "Möwe" und "Wanja" springen Zuschauer zu Standing Ovations von ihren Sitzen.

Die Figuren, die Gosch in seinen jüngsten Arbeiten am Deutschen Theater auf die Bühne führt, berühren etwas, was unter den Zumutungen des Regietheaters verschüttet war: die Sehnsucht nach dem aus eigenem Antrieb spielenden, von keinem Regisseur auf Absicht und Wirkung getrimmten Menschen. Unter dem calvinistisch hellen Licht, mit dem sein Bühnenbildner Johannes Schütz die Bühnen- und Zuschauerräume aufreißt, entfaltet sich ein Theater, das weder Konzept noch Les-Art, weder Mittel der Verdeutlichung noch ästhetische Hüllen braucht, weil es nicht Absichten abbilden will, sondern Erfahrung.

In Berlin war seine Arbeit lange nicht akzeptiert

In beiden Aufführungen tauchen Bilder auf, die Gosch aus seinen Erinnerungen schöpfte. Der im Kriegsjahr 1943 Geborene, der im Osten Berlins aufwuchs, nennt die Jahre nach dem Zusammenbruch die prägende Zeit seines Lebens, und berichtet von den singenden, tanzenden, Wodka trinkenden Soldaten der Roten Armee, vorwiegend jungen Mongolen, die er als Kind in einer Mischung aus Angst und Faszination auf den Straßen erlebt hat, spricht aber auch über die Brutalisierung der Menschen im Umgang miteinander. "Mir war während der Proben bewusst, dass sich diese Erinnerungen zurückmelden", sagt er. "Ich wollte sie aber nicht inszenieren, sondern wollte es den Schauspielern überlassen, auf meine Impulse einzugehen. Wenn man der Aufführung ablesen kann, dass sie nicht inszeniert wurde, sondern aus dem Spielen entstanden ist, freut mich das ganz besonders. Genau das war meine Absicht."

Die Berliner Theaterszene hatte Goschs Arbeit lange nicht akzeptiert. Als er 1978 an eben der Volksbühne, in die er jetzt mit der "Möwe" zurückkehrte, Büchners "Leonce und Lena" herausbrachte, wurde ihm vorgeworfen, Büchner im Sinn von Beckett inszeniert zu haben. In der Welt des Sozialismus, die dem Glauben an ein stetes Voranschreiten der Menschheit huldigte, war der Nihilismus eines Beckett verpönt. Nicht minder gravierend fiel gegen Gosch ins Gewicht, dass er die Fenster und Türen des Bühnenbilds mit Brettern vernagelt hatte. Die Metapher für das verriegelte Land DDR, die er scheinbar arglos auf die Bühne gestellt hatte, führte dazu, dass er seinen Theaterweg in Hannover, Bremen, Köln und Hamburg fortsetzen musste.

Auch Jahre später blieb ihm der Erfolg in Berlin verwehrt

Zehn Jahre später kehrte Gosch in der Nachfolge von Peter Stein und Luc Bondy als Leiter der Schaubühne nach Berlin zurück. Sein "Macbeth", mit dem er im Herbst '88 seine Ära eröffnete, wurde zu einem Debakel von seltener Wucht. Das Westberliner Publikum, vom ästhetischen Prunk und Pathos der Stein-Zeit verwöhnt, empfand die Aufführung als Manifest der Verweigerung. Bühnenbild und Kostüme weckten die Befürchtung, eine von der Kunst-Doktrin der DDR abgeleitete Anti-Ästhetik könnte aus der Schaubühne verbannen, was dort bislang als das wahrhaft Schöne gegolten hatte. Gosch sah sich ein weiteres Mal gezwungen, sich im Westen des Landes um Arbeit als Regisseur zu bemühen.

Am Deutschen Theater machte er in den Neunzigern mit Aufführungen wie "Der Reigen" und "Warten auf Godot" einen dritten Versuch, sich in Berlins Theaterszene durchzusetzen. Der Erfolg blieb ihm auch diesmal verwehrt. "Ich wusste bei jeder Premiere, dass das, was auf der Bühne gespielt wurde, nichts zu tun hatte mit dem, was ich erreichen wollte", sagt er heute. "Ich hatte immer das Gefühl, ich bin wieder gegen die Wand gelaufen. Ich habe mich wirklich geschämt für das, was ich damals gemacht habe."

Besonders hart traf ihn, dass ihm Schnitzlers "Reigen" misslungen war. "Es ist ein Stück über die Liebe", sagt er, "und im Grunde hat mich nie etwas anderes interessiert, als Geschichten über die Liebe zu erzählen. Ich war damals sehr verliebt, drum wollte ich dieses Stück besonders gut machen. Dass ich hinterher zu hören bekam, es sei mir völlig misslungen, hat mich viele Jahre lang ratlos gemacht."

Das waren "verlorene Jahre"

In diesen Berliner Jahren, die Gosch heute "verlorene Jahre" nennt, wurde er mit Inszenierungen, die er am Schauspielhaus in Bochum machte, mehrfach zum Theatertreffen eingeladen. Dieses Nebeneinander von Gelingen und Scheitern, das sich auf ein Theater im Westen und eines im einstigen Osten verteilt, wirft Fragen auf, die in heikle Gefilde führen. Gosch lehnt es ab, darüber zu spekulieren, ob sein Scheitern mit dem besonderen Spielstil zu tun haben könnte, der sich im Theater der DDR herauskristallisiert hatte. Das Versagen liege ausschließlich bei ihm. Der Augenschein lässt auch ganz andere Deutungen zu.

Das Theater der DDR hatte die feineren Regungen der Seele, denen Goschs Interesse gilt, hinter der Maske eines Auftrags verschwinden lassen, der sich (in Anpassung und Widerstand) an den hohen Zielen der Gesellschaft orientierte. Das führte zu einer bizarren Spaltung. Alles schwer zu Bezähmende, und dazu gehört eine Sehnsucht, die auch die Sehnsucht nach Freiheit, nach dem Verlassen des Landes einschließt, wurde in die Nischen des privaten Lebens abgedrängt. Das Spielen auf der Bühne mutierte dadurch zu einem hoch aufgelösten, intelligent begründeten und im Ergebnis bewundernswerten Virtuosentum - von hoher Sterilität. Für Schmerz, Sehnsucht, das Leiden an der vom Regime verfügten Gefangenschaft war dieses Spielen nur begrenzt durchlässig. Selbst das Aufbegehren wurde im Schutz der Masken virtuoser Manier ausgetragen. Für die Sprache der Liebe, nach der Gosch suchte, hatten die Virtuosen des Deutschen Theaters kaum Mittel parat.

Im Sommer 2004 inszenierte Gosch am Hamburger Schauspielhaus mit Shakespeares "Wie es euch gefällt" eine Aufführung, die nur vier Mal gespielt werden konnte. Während der Proben hatten sich die Schauspieler in den Kämpfen gegeneinander, aber auch gegen die Standards eines in Maske und Manier erstarrten Metiers so aggressiv aufgerieben, dass sie nicht bereit waren, ein fünftes Mal miteinander zu spielen. Die Aufführung war eine Orgie der Auflösung, an der sich die Geister schieden. Den Zuschauern wurden nicht die Figuren von Shakespeare nahe gebracht, sondern die Exzesse einer schauspielerischen Inspiration, die weder auf das Stück noch auf dessen Figuren Rücksicht nahm. Die Energien, die auf den Proben freigesetzt wurden, fuhren so mächtig aus, dass es dem Regisseur nicht gelang, das Entfesselte am Ende in eine Form zu bringen. Die "explodierte" Aufführung präsentierte ein Spielen von überschäumender Kreativität - und bescherte Gosch die Erfahrung, dass er das Entstehen einer Aufführung den Schauspielern überlassen kann, wenn es ihm gelingt, den Exzessen der Auflösung ein Prinzip des Ordnens entgegenzusetzen.

Gosch wendet sich vom Deuten und Interpretieren ab

Der Drang zur Entfesselung, den Gosch seinen Schauspielern von nun an durchgehen ließ, machte vor keiner Entblößung, vor keinem Eindringen in die Bereiche des Analen und Fäkalen, vor keiner Schändung der Worte der Dichter Halt. "Die Proben zum Düsseldorfer ,Macbeth' waren in manchen Momenten so gefährlich, dass ich nach jeder Probe froh war, dass nichts passiert ist", sagt Gosch heute. "Das Amüsante war dabei, dass die Schauspieler beim gemeinsamen Spielen nicht davor zurückschreckten, die Szenen von Shakespeare kurz und klein zu spielen, dass sie aber in die Knie gingen, sobald sie mit den großen Monologen allein auf der Bühne standen."

Dass Gosch den Spielern seit einiger Zeit so besonders viel Freiheit lässt, geht auch auf eine Beobachtung zurück, die er auf den Spielplätzen Charlottenburgs machen konnte. Beim Betrachten des Geschehens in den Sandkästen, zu denen er seine beiden jüngsten Kinder begleitete, fiel ihm ein Spielen auf, das keinem Auftrag folgt und von keiner Regie bewegt ist - und doch im Kleinen den gesamten Kosmos des menschlichen Miteinander abbildet. Dieses absichtslose Spielen, das eine besondere Poesie ausstrahlt, bestärkte Gosch darin, sich vom Deuten und Interpretieren, das ihm seit jeher suspekt war, mit geradezu fundamentalistischer Radikalität abzuwenden.

Bei den Figuren eines Tschechow ist mit dem Entfesseln von schauspielerischer Energie nicht viel zu gewinnen. Diese Figuren sind Zögernde, Verletzte, Gelähmte, vom Scheitern Bedrohte, die für die Suche nach Liebe weder Worte noch einen Spielraum finden. Sie betäuben ihre Sehnsucht und begnügen sich mit Ersatz, damit sie ihr Unglück nicht spüren müssen, geraten aber in Panik, wenn jemand von neuen Formen spricht, den Pakt mit der Sehnsucht als faul entlarvt und sich lieber erschießt, als das Spiel der Resignation mitzumachen.

Immer auf der Suche

Dass Jürgen Gosch diesen Figuren kein besseres Wissen überstülpt, dass er sie im hellen Licht der calvinistischen Gottsuche in ihrem Hoffen und Bangen und Leiden und Sterben agieren lässt, dass er sie in den Schmerz begleitet, der unter den Masken der Selbsttäuschung lauert, zeugt vom Selbstvertrauen eines Regisseurs, der seinen Theaterweg immer als Suche und nicht als Präsentation von patenter Gewissheit verstanden hat.

Nicht alle Schauspieler, die Gosch für seine Inszenierungen um sich versammelt, finden den Zugang zum Geheimnis ihrer Figuren. Dass der eine oder andere einem "Theater der wirklich anderen Dimension" manches schuldig bleibt, ist Gosch dabei durchaus bewusst. Trotzdem lehnt er es ab, die Spielenden per Anweisung nach dem eigenen Bilde zu formen. Das inszenierende Ego, das auf eigene Rechnung wirtschaftet, indem es die ihm vom System verliehene Macht dazu gebraucht, den Körpern der Spieler die eigene Vision aufzudrücken, ist aus der Theaterarbeit dieses Regisseurs auf mirakulöse Weise verschwunden. Seine schwere Erkrankung mag ein Grund dafür sein, dass "die Augen der Liebe" das eigene Interesse in der Zuneigung zum Spielen der anderen vollständig auflösen. Dass Gosch seine Zuschauer in diesen Tagen so tief berühren kann, verdankt er gewiss auch dieser höchsten Form der Sublimation.

"Durch Selbstbearbeitung kommt der Verworrene zu jener himmlischen Durchsichtigkeit, zu jener Selbsterleuchtung, die der Geordnete so selten erreicht", hat der romantische Dichter Novalis uns hinterlassen. "Dahingegen der Ordentliche so früh als Philister aufhört". In seinen Tschechow-Inszenierungen macht Jürgen Gosch uns bewusst, dass wir schon viel zu lang einem falschen Begriff vom Gelingen nachjagen.

Michael Eberth begleitete die Proben zur "Möwe". Er arbeitete als Dramaturg u. a. an den Münchner Kammerspielen, dem Wiener Burgtheater, am Deutschen Theater Berlin und am Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Er bringt im Mai im Verlag Theater der Zeit einen Band mit Gesprächen mit Jürgen Gosch heraus. Im März erscheinen im gleichen Verlag Gespräche mit den Schauspielern Samuel Finzi und Ulrich Matthes.

>> Tickets fürs "Deutsche Theater"

"Die Möwe" am 8. und 14. Februar sowie am 2. März in der Volksbühne. -

Michael Eberth

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