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Theater: Göttliche Tragödie

Romeo Castellucci triumphiert mit seiner Dante-Fantasie beim Festival von Avignon. In kurzen Szenen lässt er für Momente eine Welt entstehen und wieder zerfallen, eine Rumpelkammer für Melancholien, melodramatische Gefühlchen und vergangene Seelenzustände.

Was macht das Theater, wenn man ihm die Luft abschnüren will? Es schreit. Es stellt sich an die Rampe und brüllt das Publikum an, es kreischt merde! und fuck! fuck! fuck!, bis die Zuschauer anfangen zu flüchten oder zu fluchen. Kurios genug: Falk Richters „System“ wurde in Avignon in der Regie von Stanislas Nordey zur Renaissance eines vollends humorlosen und forcierten Agit-Prop. Egal, ob da bei Richter von Angela Merkel oder George W. Bush die Rede ist. Egal, ob der Streitstoff Irakkrieg heute schon ein bisschen angestaubt erscheint, man spürte, dass da jemand anderes gemeint war und hörte immer irgendwie Sarkozy durch die Worte schallen. Das Théâtre Public, das Festivalgründer Jean Vilar einmal für einen Baustein des öffentlichen Dienstes hielt und also für so wichtig wie die Müllabfuhr oder die Wasserversorgung, wird von der Politik des Präsidenten in Frage gestellt. Es spielt jetzt also irgendwie immer auch ums Überleben.

Was zeigt das Theater, wenn der Gebrauch der Bilder zu einer hoheitlichen Angelegenheit geworden ist, wenn die ohnehin schon vom Massengebrauch ausgemergelte Bildwelt jetzt auch noch zur Domäne der politischen Medienmacht wird, im Italien Berlusconis und im Frankreich Sarkozys? Das Theater versucht sich zu retten, indem es die Bilder aus dem Bereich banaler Erzählungen und Bedeutungen herauslöst und als vergiftete, böse Sendbotschaften ans Unterbewusstsein schickt, wo sie die wildesten Bedrückungen auslösen. Romeo Castelluccis Dante-Trilogie, die so furios und epochemachend im Papstpalast von Avignon mit „Inferno“ begonnen hatte, setzte sich in einem privaten Albtraum im „Purgatorio“ fort, um in einer stillen Installation in einer Kapelle, in einem Bild vom Ende aller Zeiten zu enden.

Im Kontrast von Nordeys Botschaft ohne Theater und Castelluccis Theater ohne Botschaft sind Elend und Glanz des diesjährigen Festival aufgehoben – von der Krise des Texttheaters bis hin zur irgendwie unheimlichen, weil der Vernunft unzugänglichen Kraft der Bilder.

Nur in seinem zweiten Teil, im „Purgatorio“, erlebt man bei Castellucci eine klassische Theateraufführung, eine mimetische Veranstaltung, die das Leben in seiner realen Grausamkeit nachahmt. Inmitten eines aufgeräumten Wohlstands, der vom ersten Moment an das Grauen von David-Lynch-Filmen erreicht: Mutter und Sohn in einem dünnen, gefühllosen Dialog, während eine Übertitelung das jeweils folgende Geschehen vorwegnimmt und so das Dargestellte als ein Nachspielen von Leben kenntlich macht. Es kommt zur Vergewaltigung des Sohnes durch den Vater, was Castellucci nur akustisch aus dem Off herüberwehen lässt. Hier wird gebüßt, indem man einer Widerspiegelung des Lebens beiwohnt. Wie einst bei Kubricks „Clockwork Orange“.

Das Schauen wird hier zur Strafe, der Blick in die eigene Vorstellung zum Horror. Fast unerträglich wird Castelluccis Erzählung in der ersten halben Stunde des „Purgatorio“, wenn der Vater, von dem eigenen triebhaften Vergehen zutiefst deprimiert, in den Salon zurückkehrt, wo er wenig später von seinem Sohn getröstet wird. Das Opfer selbst vergibt die Sünde. Man sitzt an einem Flügel, der jenem ähnelt, aus dem im „Inferno“ die Flammen auflodern, und auch jenem, der im „Paradiso“ verkohlt inmitten einer Wasserfläche steht, als letzte Spur der Menschenwelt am Ende aller Leidenschaften. Castelluccis Meditation über Dantes „Divina Commedia“, gebaut für die gotische Papststadt, geht nun international auf Tournee und gehört eigentlich auch nach Berlin.

Für den Rest des Programms war nach diesem Start die Latte zu hoch gehängt, vor allem für das klassische Text-Theater. Es waren die Gesamtkunstwerker Francois Tanguy, Joël Pommerat und Wajdi Mouawad, deren Arbeiten überzeugten. Mit simpelsten Elementen wie Tischen, Stühlen und Holzpaneelen arbeitet dabei François Tanguy, der in Le Mans seit langem ein eigenwilliges Theaterlabor unterhält. Als bräche unvermittelt die kleine Poesie des Lebens in ein Möbellager und in den Kostümfundus ein, lässt er in kurzen Szenen für Momente eine Welt entstehen und wieder zerfallen, eine Rumpelkammer für Melancholien, melodramatische Gefühlchen und vergangene Seelenzustände, inmitten schiefer Wände und angestoßen von einer Sammlung von Texten und Musiken aus den verschiedenste literarischen und musikalischen Horizonten.

Anders als Tanguy, dessen kollagierte Arbeiten keine Spur von einer erzählten Geschichte mehr enthalten, hat Wajdi Mouawad mit seinem Solo „Seuls“ autobiografische Motive zu der ergreifenden Geschichte eines Exil-Libanesen zusammengeführt, der eine wissenschaftliche Arbeit über die Ästhetik im Theater des Robert Lepage schreiben will. In dieser Hommage an den berühmten Frankokanadier arbeitet Mouawad auch mit den Projektionen, Dopplungen und zauberhaften Verwandlungen, die Lepages Performances prägen und verarbeitet aus seiner Perspektive des Exil-Libanesen die in Lepages Theater virulente Frage nach Identität und biografischen Aufspaltungen.

Nachdem Romeo Castellucci zu Beginn des Festivals von Avignon 2008 die Rolle des künstlerischen Beirats vorbildlich eingelöst hat, indem er den Blick auf das Theater neu schärfte und konditionierte, haben Poeten-Regisseure wie Joël Pommerat und Wajdi Mouawad zum Schluss auch wieder das Wort und den Text rehabilitiert. Die Sprache war im Triumph von Castelluccis machtvollen, überwältigenden Bildern verschwunden. Wajdi Mouawad wird diesen Weg als künstlerischer Leiter des nächsten Festival d'Avignon fortsetzen.

Eberhard Spreng

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