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Kultur: Theater, Krieg

Peter von Becker zur Geiselnahme im Moskauer Musical Ein Theater wird besetzt, von bewaffneten Kämpfern. Da kommt einem im ersten Reflex der „Opernball“ in den Sinn, Josef Haslingers Bestseller über das Attentat auf die Wiener Walzerwelt.

Peter von Becker zur Geiselnahme

im Moskauer Musical

Ein Theater wird besetzt, von bewaffneten Kämpfern. Da kommt einem im ersten Reflex der „Opernball“ in den Sinn, Josef Haslingers Bestseller über das Attentat auf die Wiener Walzerwelt. Oder „Der Balkon“ von Jean Genet, dessen Stück das Theater zum Bordell macht und das Bordell zum „Haus der Illusionen“ und damit wieder zum Theater (des Lebens, der Politik): bis dort bewaffnete Revoluzzer eindringen – deren Revolte doch selbst nur eine blutige Illusion bleibt. Gestern Wien und Paris, heute Moskau?

Ein geistiger Globalisierungseffekt suggeriert, dass alles immer mit allem zusammenhängt. Hinzu kommt, verstärkt durch die Bilder des 11. September oder den Serienkiller von Washington, ein zweiter Reflex. Weil es für fast alle Katastrophenszenarien seit Kain und Abel literarische, bildliche, filmische Vorbilder gibt, wird die Wirklichkeit gleichsam nur als Nachspiel einer (angeblich übermächtigen) Medienrealität begriffen. Als gäbe es weltweit bloß noch Nachahmungstäter. Als wär’s nicht umgekehrt: Von Anfang an spiegeln und verdichten die Mythen und Künste vorhandene Abgründe, Ängste und Hoffnungen, imaginieren die menschenmöglichen Taten und Untaten. Entdecken sie, finden sie vor, aber erfinden sie nicht wirklich.

Natürlich suchen Terroristen oder Widerstandskämpfer heute auch die Öffentlichkeit. Da liegt es nahe, ein Theater als Bühne im doppelten Sinne zu erobern und die Szene zum Tribunal der eigenen Sache zu machen. Doch treffen die Assoziationen zu Genet und Haslinger oder gar zum Mai 1968, als die Pariser Studenten das Théatre de France, besetzten, heute kaum die tschetschenischen Kämpfer in Moskau.

Es geht dort um keinen antibürgerlichen Affekt, um keinen Kulturkampf. Allerdings fällt dem fernen Beobachter jetzt auch ein jüngstes Erlebnis ein. Es war gleichfalls im Theater, letzten Sonntag, da saß der russische Kulturminister mit zwei russischen Dramatikern bei einer Diskussion über Politik und Bühne auf dem Podium des Berliner Maxim Gorki Theaters. Der Minister (ein liberaler Mann) konstatierte eine Entpolitisierung der Moskauer Szene, weil sich der Konflikt zwischen Künstlern und Staat seit der Wende entschärft habe. Darauf entgegnete Alexander Gelman, Russlands angesehenster Theaterautor: Es gebe in Moskau genug neue Konflikte – und: „Jeden Tag sterben in Tschetschenien mindestens zehn Zivilisten durch russische Gewalt“.

Besucher des Internationalen Literaturfestivals in Berlin dieses Jahr erzählen sich auch von der Lesung des bedeutendsten tschetschenischen Dichters, Apti Bisultanov: eine Rezitation mit geschlossenen Augen, bannend, erschütternd. Der Poet hat im Krieg alle seine Zähne verloren, aber nicht sein Gesicht, nicht den Mund, der vom „Wandel der Geschichte“, von der „Windhose des Teufels“ erzählt. Vom Sturm, der ein Volk weit weg im Kaukasus seit den Tagen Stalins beutelt, quält, zu verzweifelten Taten treibt. Darum spielt in jenem Moskauer Theater, selbst wenn es für die unschuldigen Geiseln gut endet, allemal eine Tragödie.

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