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Theater: London, U-Bahn, 7. Juli 2005

Short Cuts rund um ein Attentat: Christoph Mehler inszeniert Simon Stephens’ "Pornographie" am Deutschen Theater Berlin. Einige Durststrecken inklusive.

Nicht, dass die arbeitslose Akademikerin sich das Networking problemlos vorgestellt hätte. Aber so erbärmlich sah die Begegnung mit ihrem ehemaligen Professor, den sie endlich um die Vermittlung eines Jobs bittet, wohl nicht mal in ihren deprimierendsten Albträumen aus. Sich angespannt an ihrem Drink festhaltend, hockt sie in der Professorenwohnung und lässt die triumphalen Bekenntnisse eines dicken, kleinen, alten Mannes über sich ergehen. Zum Beispiel: „Ich arbeite die ganze Nacht an meinem Schreibtisch. Nackt!“ Auf die Kenntnis solcher kreativitätsmethodischer Details hätte die Adressatin allerdings gern verzichtet.

Es ist eine tolle Szene zwischen Constanze Becker und Michael Schweighöfer in Christoph Mehlers „Pornographie“-Inszenierung. Mehr noch als die Demütigungen der Arbeitssuche spielt Becker, mit Jeans und Intellektuellenbrille, die vollendete Desillusion: Während sich der so verehrte Lehrer nach Leibeskräften sabbernd demontiert, geht in ihrem Leben etwas viel Grundsätzlicheres kaputt. „Fährt hier irgendeine Bahn zur Edgware Road?“, fragt sie den weinerlichen alten Mann am nächsten Morgen sachlich. Es ist der 7. Juli 2005: 52 Menschen werden bei Bombenanschlägen auf die U-Bahn und einen Bus sterben.

Die Begegnung zwischen Professor und Ex-Studentin ist nur eine von sieben Szenen aus dem Londoner Alltagsleben, die Simon Stephens in seinem Stück „Pornographie“ beschreibt. In einer anderen faxt etwa eine junge Mutter (Birgit Unterweger) aus Frust über Chef und Firma ein geheimes Dossier an die Konkurrenz, schläft eine Frau (Alwara Höfels) mit ihrem Bruder (Alexander Khuon) oder missdeutet ein Schüler (Mirco Kreibich) mit schwerem Testosteron-Überschuss Signale seiner kurzberockten Lehrerin.

Gemeinsam ist den Szenen, dass sie in der Woche bis zum Anschlag spielen, in der London zwei Großereignisse feierte: Im Hyde Park rockten Pink Floyd und Madonna beim weltweit größten Benefizkonzert. Und auf den Straßen sorgte die Nachricht, dass London im Kampf um die Olympia-Bewerbung 2012 Paris geschlagen hat, für Hupkonzerte. Diese Koordinaten tauchen in jeder Szene auf; ebenso wie am Schluss die Anschläge ins Alltägliche einbrechen.

Dabei vermeidet Stephens jeden Katastrophenvoyeurismus. Die Tragödie selber bleibt eine Art blinder Fleck; sie offenbart sich eher in ihren teils traumatisch-pragmatischen, teils irrationalen Wirkungen. Das bleibt sogar in der vierten Szene so, in der ein junger Familienvater am Morgen des 7. Juli mit einer auffälligen Reisetasche in den Londoner Berufsverkehr aufbricht. Ein Täter: In London agierten „homegrowns“ – in England aufgewachsene Attentäter.

Der 34-jährige Regisseur Christoph Mehler, der im Deutschen Theater die Experimentierspielstätte "Box und Bar" leitet und dort bereits Stephens’ gefeiertes „Motortown“ inszenierte, gibt mit „Pornographie“ seinen Einstand auf der Kammerspielbühne des Hauses. Keine leichte Aufgabe, denn im Sommer hatte Sebastian Nübling in einer Koproduktion des Hamburger Schauspielhauses mit dem Schauspiel Hannover und dem Festival Theaterformen eine maßgebliche Ur-Inszenierung, die zudem zum Theatertreffen eingeladen ist. Nübling verpasste dem Geschehen einen gewaltigen, deutungsfreudigen Überbau, indem er die Londoner Metropolenbewohner abendfüllend am alttestamentarisch verbrieften Turmbau zu Babel schuften ließ. Die Öffnung ins Universelle tat dem Stück gut – denn bisweilen ergeht es sich zu sehr in unspektakulärer Alltäglichkeit.

Mehler geht den umgekehrten Weg und macht die Sache damit nicht zwingender. Die Bühne wäre auch ohne gelegentliche Zuggeräusche vom imaginären Nachbargleis unschwer als U-BahnSchacht zu identifizieren gewesen; die Darsteller stehen oder sitzen dort auf Plastikstühlen und geben solide ihre Geschichten zum Besten: Die vielschichtige und durchaus nicht komikfreie Härte von Becker und Schweighöfer bleibt leider die Ausnahme.

Zudem parallelisiert Mehler die Szenen, die bei Stephens aufeinanderfolgen, und switcht nach Short-Cuts-Manier ständig hin und her, so dass 20 Minuten vor Schluss wie in einem ordentlichen realistischen Drama alle am selben dramaturgischen Punkt sind. Der Attentäter (Mathis Reinhardt), der zuvor am hinteren Bühnenende gesessen und bei Bedarf für die anderen als Stichwortgeber fungiert hatte, tritt zum Monolog an die Rampe. Bis dahin sind einige Durststrecken zu überwinden.

Wieder am 4. und 10. März, 20 Uhr

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