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Kultur: Theater: Nasdarowje!

Kommen die Märchen aus dem Alkohol? Der Wodka, und alles was ihm zuzuordnen ist, schafft nach Wenedikt Jerofejew schwebende Leichtigkeit, beflügelt die Phantasie, lässt den Alltag abtauchen, versinken.

Kommen die Märchen aus dem Alkohol? Der Wodka, und alles was ihm zuzuordnen ist, schafft nach Wenedikt Jerofejew schwebende Leichtigkeit, beflügelt die Phantasie, lässt den Alltag abtauchen, versinken. In seiner Novelle "Moskau-Petuschki" feiert der russische Erzähler einen Säufer, der zum Philosophen wird und zum Chronisten einer Welt, die er sich selber erfindet. Dieser namenlose Held geht auf eine eigentümliche Entdeckungsreise, erst irgendwo in Moskau und dann im Zug nach Petuschki - oder von Petuschki nach Moskau zurück. In diesem Ineinander von dumpfer Realität und befreiendem Traum, von melancholischer Trauer und heimlicher Freude, von trüber Hoffnungslosigkeit und strahlender Utopie nimmt Jerofejew, 1938 in Kirowsk geboren und im Alter von fünfzig Jahren in Moskau gestorben, eine besondere russische Erzähltradition wieder auf. Es waren die Mitglieder der Gruppe Oberiu um Daniil Charms, die in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die nachrevolutionäre Wirklichkeit trickreich attackierten und auf eine elegant zirzensische, hinreißend teuflische Art zum Gespött machten. Jerofejew, der ein Menschenalter später Geborene, variiert auf seine Art den Zorn, den Witz - und die Resignation der zu ihrer Zeit erbarmungslos verfolgten Petersburger Dichter.

Stephen Mulrine hat nach der Novelle einen Monolog geschrieben, der im Studio des Maxim Gorki Theaters Premiere hatte. Joachim Meyerhoff, mit Beate Heine auch Regisseur des Abends (Ausstattung Tatjana Lyssenko), vollzieht die Weltenschöpfung des Trinkers mit einem kindlichen Staunen. Zu Beginn in einem olivgrünen Tarngehäuse aus Stoff mit langem Fischmaul steckend und über ein quäkendes Mikrofon redend, zeigt der Schauspieler das Steckenbleiben in nicht verstandenen Wirklichkeiten in gleichsam hochgerüsteter Verletzlichkeit. Dann kommt er, von der starren Haut befreit, ins Erzählen, mit einer anrührenden Geschmeidigkeit, nachdenklich, zurückhaltend, und auch aufgerührt, erregt. In den Fluss dieses Erzählens sind theatralische Vorgänge eingebaut, die dem Schauspieler sinnliche Möglichkeiten zu seinem seltsam verwirrten, seltsam klaren Bericht geben sollen. Auf dem Boden flattern Vögel, Trinkgefäße aus Plastik werden zerstampft, ein Vervielfältigungsgerät liefert dem Trinker Bilder von sich selbst. Clownesker Höhepunkt ist eine feuchte Demonstration über das Entstehen scheußlichster Trink-Mixturen, deren Zutaten aus dem Untergeschoß des Kopierers hervorquellen. Aber es bleibt Meyerhoffs Verdienst, dass auch in diesen Zutaten zur spannungsvollen Erzählung der Humor gewahrt bleibt, eine aus allen Angeln gehobene Wirklichkeit ihren poetischen Reiz bewahrt. Am Ende öffnet der Schauspieler alle Fenster, schwingt sich hinaus auf die Straße zwischen dem Studio und dem Ergänzungsbau des Deutschen Historischen Museums. Hat er Petuschki endlich gefunden, mitten in Berlin?

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