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Theater: O Land voll Blut und Wunden

Religion und Gewalt prägen das Images Kolumbiens. Passionsspiele: Politisches Theater aus Kolumbien – ein Festival am Berliner HAU.

„Das Heimatland und die Freiheit“: So heißt die Rede des Präsidentschaftskandidaten der liberalen Partei, und es geht darin tatsächlich um große Ideen und nicht um Wirtschaft, wie man hierzulande ja denken könnte. Der Kolumbianer Rafael Uribe Uribe hat die Ansprache 1901 gehalten, 13 Jahre später starb er, nachdem er von zwei Männern mit einer Axt angegriffen worden war.

Heute steht die Performerin Carmen Martinez vor dem Uribe-Denkmal im Parque Nacional von Bogotá und verliest noch einmal seine Worte, es ist der Nachhall einer uneingelösten Hoffnung. „Six Acts“, so hat der junge kolumbianische Künstler Carlos Motta seine Videoinstallation betitelt, für die er an öffentlichen Plätzen der Hauptstadt sechs Reden von Kandidaten der Linken vortragen ließ, die in der fernen und nahen Vergangenheit sämtlich ermordet wurden. Der letzte, Jaramillo Ossa, fiel 1990 einem Attentat am Flughafen zum Opfer. Eine bittere Geschichtsstunde.

Kolumbien ist eine Republik mit vielen Problemen und einem schlechten Image. „Libertad y Orden“, Freiheit und Ordnung, das Motto auf der Staatsflagge, ist eher frommer Wunsch als gesellschaftliche Wirklichkeit. „Libertad y Desorden“, Freiheit und Unordnung, hat Kirsten Hehmeyer das Festival überschrieben, das sie zusammen mit Matthias Pees und Gustavo Llano für das Berliner Hebbel am Ufer organisiert hat und das die Konflikte Kolumbiens im Spiegel seiner gegenwärtigen jungen Kunst zeigt. Es versammelt Theatermacher, Tänzer, Musiker, die sich drängend fantasievoll ihr Land zu erklären versuchen und dabei den Blick für die globalen Zusammenhänge besitzen.

Ein gut gewählter Zeitpunkt für dieses Festival,das nebenbei allein dank eines logistischen Kraftakts vor den Launen des isländischen Vulkans gerettet werden konnte: In Kolumbien stehen nicht nur Präsidentschaftswahlen ins Haus, sondern auch die Feiern zu 200 Jahre Unabhängigkeit.

Was halten die Südamerikaner von der Demokratie als Staatsform? Was erwarten sie von einem Anführer? Wie denken sie über die interventionistische US-Politik auf ihrem Kontinent? Fragen, die der Künstler Carlos Motto in zwölf Ländern auf der Straße gestellt hat. Entstanden ist daraus die faszinierende Installation „The Good Life“, die im Titel auf Aristoteles’ Ethik anspielt und die auf dreizehn Monitoren ein polyphones Meinungspanorama zeigt. Waschechte Demokratieverächter („Die Leute machen dann, was sie wollen“) kommen ebenso zu Wort wie eine große Zahl reflektierter, informierter Zeitgenossen jeden Alters. Dazwischen schneidet Motta immer wieder Impressionen eines katholischen Grausamkeitskitsches, der die politischen Glaubensfragen mit der Ikonografie der religiösen Heilserwartungen kontrastiert: Heilands Haupt voll Blut und Wunden in der Splatter-Version oder eine peitschenschwingende Passionsprozession vorbei an Boutiquen in Venezuela.

Katholische Wurzeln hat auch das „Fest der unschuldigen Kinder“, das am 28. Dezember gefeiert wird und ursprünglich an die von König Herodes ermordeten Knaben Bethlehems erinnern sollte. Den Implikationen, die das karnevaleske Straßentreiben heute besitzt, spüren die Regisseure Heidi und Rolf Aberhalden vom berühmten Mapa-Teatro in Bogotá in ihrer Eröffnungsinszenierung „Los Santos Inocentes“ nach, einer Koproduktion mit dem HAU.

Sie sind dafür nach Guapi gereist, eine Stadt in der zwischen Guerillas, Paramilitärs und Regierung heiß umkämpften Pazifikregion Cauca. Zwei Hauptfeinde haben die Bauern dort: bewaffnete Gruppen, die Terror verbreiten, und Flugzeuge, die Pestizide über die Coca-Felder sprühen. Im Stück nun begibt sich eine Festgesellschaft im grellbunten Bühnenbild aus Faschingsmasken und Luftballons auf einen Recherche- und Folkloretrip durch die gewaltvolle Geschichte und Gegenwart Guapis.

Grotesk wirken die Impressionen vom „Fest der unschuldigen Kinder“ auf der Videoleinwand: eine wilde Travestie zur Triebabfuhr ist das heute, ein Gender-Trubel, in dessen Zuge sich Männer als dämonengesichtige Frauen verkleiden, die auf alles eindreschen, was sich bewegt, und Frauen sich zur Jagd auf Männer zusammenschließen. Bis sich dieser wüste Haufen zur Demonstration formiert, die „Raus mit euch Guerilleros!“ skandiert. Am Ende dann steht die verstörende Selbstbezichtigung eines Paramilitärs, der seitenlang seine Morde referiert, immer noch ein Name, noch ein Toter. Ein großartiger Festivalauftakt – und ein politisch höchst unbequemer. Kein Wunder, dass die kolumbianische Botschaft sich nicht als offizieller Unterstützer einbringen mochte.

In der Inszenierung „Familienangelegenheiten“ des jungen Theatermachers Jorge Hugo Marín aus Medellin sind die Konflikte hingegen hausgemacht, erzählen aber ebenfalls von einer Gesellschaft in der Krise und der allmählichen Auflösung ihrer Werte. Von einer Veranda aus blickt man durch die Panoramascheibe eines Wohnzimmers: In der Originalinszenierung war es das des Regisseurs – und wird Zeuge eines eskalierenden Geschwisterstreits über die Frage, wer die Pflege der hilfsbedürftigen Mutter übernehmen soll.

Ebenso sehenswert ist die bereits vielgereiste Arbeit „Mosca“ (Fliege) von Fabio Rubiano, die Shakespeares Schlachtfest „Titus Andronicus“ mit einfachsten Mitteln auf drei Küchentischen in eine moderne, auch beklemmend komische Fassung übersetzt. Ein bissiger Politkommentar, bei dem ein Gemüsemesser genügt, um vom Grauen zu erzählen. Und ein Festival, auf dem man nicht nur Kolumbiens Theaterszene, sondern auch das Land neu entdecken kann.

Bis zum 1. Mai im HAU 1, 2 und 3. Infos: www.hebbel-am-ufer.de

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