zum Hauptinhalt
223785_0_097abb20

© Marten Vanden Abeele / Salzburger Festspiele 2008

Theater: Trauer muss Tijen tragen

Die Salzburger Festspiele werden antik: Jan Lauwers und seine Needcompany experimentieren in „Das Hirschhaus“ mit Trauerzeremonien.

Das griechische Theater, schreibt Ismail Kadaré in einem Essay über Aischylos, entstand an einem Grab. Seine ursprüngliche Funktion war es, die Hinterbliebenen eines Toten zur Trauer- und Abschiedszeremonie zu vereinen.

Dies nimmt der flämische Multimediakünstler Jan Lauwers und seine Needcompany in ihrer neuesten Arbeit, uraufgeführt bei den Salzburger Festspielen auf der Perner-Insel in Hallein, nahezu wörtlich. „Das Hirschhaus“ ist die Meditation über einen Todesfall in der Truppe: Die Tänzerin Tijen Lawton verlor 2001 ihren Bruder, einen Kriegsfotografen, im Kosovo; sein Tagebuch blieb übrig.

Aufführungen der Needcompany seien wie eine Party entfernter Bekannter, die man aus einem Nebenraum beobachtet, schrieb der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann über Lauwers. Man verbringe „einen Abend bei (nicht mit) Jan und seinen Freunden“. Das souveräne, gelassene Bei-sich-Sein der spielenden, tanzenden, singenden Performer schien dem Theoretiker des „Postdramatischen Theaters“ eine Authentizität zu verbürgen, die um Anverwandlung anderer Figuren bemühte klassische Schauspieler nur vortäuschen könnten.

Wie würde solche „Authentizität“ im Fall extremer „Betroffenheit“ – Tijen Lawton als „Tijen“ auf der Bühne – aussehen, fragte man sich davor ein bisschen beklommen. Es begann mit einem Coup, der erst wie inszeniert wirkte: Der eisgraue 51-jährige Lauwers trat vors Publikum und teilte mit, die Tänzerin Anneke Bonnema habe sich am Rücken verletzt, müsse ein Korsett tragen und dürfe nur liegen; man habe sich entschlossen, trotzdem zu spielen.

Nein, es war kein zynischer Fake. Die zynische Phase hat Lauwers wohl hinter sich. Anneke Bonnema wurde als „Anneke“, aber noch mehr als reale Schmerzensfrau rechts auf der Bühne aufgebahrt. Der Trauerschmerz von „Tijen“ war gleichsam in ihren Körper gefahren. Und es war berührend zu sehen, wie die Mitglieder der Lauwers-Family, „Tijen“ voran, „Anneke“ immer wieder einbezogen, sie anlächelten oder zärtlich streichelten.

Das versöhnte in Maßen mit der literarischen Prätention und Konstruiertheit des Abends. Lauwers beginnt in der Theatergarderobe, die Needcompany auf Tournee, alle lässig in Adidas-Hosen oder Dessous. Mit aufgesteckten Gummiohren und einer ganzen Herde weißer Gummihirsche (mehr ein Tribut an Walt Disney als ans Salzkammergut) macht man auf fröhliche Travestie. Dann zitiert „Tijen“ aus dem Tagebuch des Bruders („Einige Tote sind toter als andere“), und die Performance driftet mählich in ein Familien-Massaker-Märchen, das es mit den „Atriden“ des Aischylos aufnehmen möchte.

Der Kriegsfotograf wird in den Bürgerkrieg hineingezogen, erschießt gezwungen eine junge Mutter (er muss sich entscheiden, ihr Leben oder das der Tochter zu retten), bringt die wunderschöne nackte Leiche der kosovarischen Großfamilie, die unter der Fuchtel einer Matriarchin (Viviane de Muynck) Hirsche züchtend in einem Jagdhaus in den Bergen lebt, und wird von einem Schwiegersohn abgeschlachtet. Ergreifendste Szene: wie die Mutter und die geistig behinderte Tochter (die großartige Grace Ellen Barkey) die Tote anzuziehen versuchen.

Am Ende liegen in der Mitte auf einer tragödiengerechten Ekkyklema, einer kleinen Bühne, drei Leichen aufgebahrt. Und im musicalartigen Auferstehungs-Finale wird mächtig, ganz unzynisch das Leben gefeiert, gesungen und getanzt: „We are small people with a big heart ... We love each other and it’s a real art.“

Den ergriffenen Applaus nahm Anneke Bonnema, blass lächelnd, im Rollstuhl entgegen. Auch in den kommenden Tagen muss sie liegend das Dostojewskij-Motiv „Das Leiden annehmen“ verkörpern, das zu Beginn des Festivals bei Andrea Breth in „Verbrechen und Strafe“ mit viel Kunstwillen intoniert wurde. Die Verletzte ist auch an den Stücken „Isabella’s Room“ und „Lobster Shop“ beteiligt, die bis zum 5. August zusammen mit „Das Hirschhaus“ gezeigt werden. Eine wohl einzigartige Chance für den Lauwers-Fan übrigens, diese Trilogie zusammenhängend zu sehen: Es wird sich nicht so schnell ein anderes Festival finden, das „Sad Face/Happy Face“ auf die Beine stellt.

Andres Müry

Zur Startseite