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Kultur: "Theaterwelten": Das Echo der Ebene

Musik-Theater einer unbekannten Dimension: Das Théâtre de Complicité aus London und das Emerson String Quartet (New York) gastieren bei den "Theaterwelten" mit ihrer Hommage an den russischen Komponisten Dimitri Schostakowitsch (1906 - 1975), die in dem legendärem 15. Streichquartett ihren Höhepunkt hat.

Musik-Theater einer unbekannten Dimension: Das Théâtre de Complicité aus London und das Emerson String Quartet (New York) gastieren bei den "Theaterwelten" mit ihrer Hommage an den russischen Komponisten Dimitri Schostakowitsch (1906 - 1975), die in dem legendärem 15. Streichquartett ihren Höhepunkt hat. Schostakowitsch galt lange als "Staatskomponist der Sowjetunion". "The Noise Of Time" ist vom 28. bis 30. September - zum ersten Mal in Deutschland - im Haus der Berliner Festspiele zu erleben. Das Gespräch mit Simon McBurney, dem Regisseur des Théâtre de Complicité, führte Rüdiger Schaper.

Simon, Sie haben Schostakowitschs Musik ein "Gebet über das 20. Jahrhundert" genannt. Was bedeutet das?

Ein Gebet spricht über Raum und Zeit hinweg. Es legt Zeugnis ab. Wie ein Gedicht. Schostakowitschs 15. Streichquartett legt Zeugnis ab von der Dunkelheit im Leben des Komponisten. Aber es ist keine Erzählung, keine Geschichte. Geschichten handeln von Kämpfen und Schlachten, die in Sieg oder Niederlage enden. Diese Musik überquert das Schlachtfeld, das der Historiker Eric Hobsbawn als das "Jahrhundert der Extreme, das kurze 20. Jahrhundert" bezeichnet hat. Diese Musik hört auf die Echos der Schreie von Triumph und Angst. Und trotz all der Dunkelheit kommt daraus auf seltsame Weise ein Frieden. Ich versuche, dem Zuhörer die Ohren zu öffnen für das, was in einem Konzertsaal vielleicht verloren geht. Es ist, wie wenn man versucht, dem Echo in einer Ebene zu lauschen.

Wir erleben den Beginn des 21. Jahrhunderts als Ausbruch von Gewalt, möglicherweise Krieg. Wie beeinflusst das die Kunst?

Das Theater ist von allem beeinflusst, was uns umgibt. Das gilt für alle Kunst. Theater muss sich unaufhörlich wandeln und - erwidern. Wir wissen im neuen Jahrhundert noch nicht, wie. Für "The Noise of Time" gab es nur eine Inspiration, und das war das 15. Streichquartett. Wir hatten nicht vor, Schostakowitschs Leben zu dramatisieren. Es gab Fragen - und eine große Zahl von Bruchstücken, Schatten, Echos, Widersprüchen, Geschichten, Bewegungen, Zeichnungen, Fotos, im Probenraum verstreut. Wer war Schostakowitsch? Ist das wichtig? Wie hören wir? Was bringt uns dazu, darüber nachzudenken, wie wir hören?

Es gibt für Sie, wie Sie sagen, normalerweise keinen Ausgangspunkt, wenn Sie inszenieren. Doch wie kam es zu Schostakowitsch?

Das 15. Streichquartett ist berühmt für seine Dramatik. Nach Schostakowitschs Tod spielte das Borodin-Quartett dieses Stück beim Licht von 100 Kerzen, in einer Art dramatischer Seance. Das Emerson Quartet dachte über eine Performance nach, der das 15. Streichquartett zu Grunde liegen sollte. Ich schlug für die Zusammenarbeit folgende Bedingungen vor: Die Musik sollte für sich selbst sprechen, und wir würden nicht vorher festlegen, welche Form das gemeinsame Stück annehmen soll. So war es auch. Was Sie in Berlin sehen werden, unterscheidet sich von den Vorstellungen in New York und London. "The Noise of Time" ist, wie alle meine Arbeiten, ein work in process.

Braucht Musik - diese Musik - einen theatralischen Rahmen? Lenkt die Action nicht auch ab? Godard hat in "Vorname Carmen" mit Beethoven-Streichquartetten gespielt, nicht nur als Soundtrack. Die Musiker waren Darsteller im Film.

Natürlich. Das Quartett braucht kein Illustration, und das Theater kann sich zwischen Musiker und Zuhörer schieben. Doch denken Sie daran: Es hat nie einen Streichquartett-Auftritt gegeben ohne speziellen Rahmen. Weil es keinen neutralen oder bedeutungslosen Kontext gibt, generell. Und denken Sie an die Gesten, die Mimik der Musiker, die sitzen, die schwitzen. Das Publikum macht aus alldem immer eine story. Wir leben in einer Welt, in der wir immerzu von Lärm und visuellen Reizen umgeben sind. Konzentration zu schaffen, bedeutet nicht unbedingt Schweigen. Wir können tiefstes Schweigen erfahren - mitten auf der Straße, zwischen Sirenen, Presslufthämmern, Autos. Als das World Trade Center einstürzte, haben wir die größte Stille erlebt.

Dennoch, dieses Zusammengehen von Theater und Kammermusik bleibt einmalig. Und riskant. Wie und worüber haben Sie und Ihre Schauspieler mit den Musikern diskutiert?

Oh, über alles und sehr detailliert. Die Musiker haben von den Schauspielern Bewegungen gelernt, und die Schauspieler lernten jede einzelne Note. Die Schauspieler sagen, dass ihr Hören sich grundsätzlich verändert hat, und die Musiker sagen, sie spielten nun anders als zuvor. Die Musiker hören Bewegung, die Schauspieler sehen Klang.

Das Radio spielt in "The Noise of Time" eine wichtige Rolle. Worin besteht die Magie dieses Mediums?

Dass Schostakowitsch schon sehr jung weltberühmt wurde, lag auch an der Entwicklung des Radios. Dessen Auswirkungen auf Kultur und Politik sind ungeheuer. Zum ersten Mal konten die Menschen mit einem winzigen Handgriff von einem Ereignis zum anderen switchen, die Radiowellen abtastend, wie ein Vogel aus der Luft die Landschaft überblickt. Dabei wurde die Unterscheidung von Fiktion und Realität schwieriger. Dieses Paradox, eine Essenz des 20. Jahrhunderts, liegt im Heren von Schostakowitschs Werk. Schostakowitsch - der brillante, angsterfüllte, schwache Genius im Zentrum der Periode des größten Terrors in der modernen Geschichte. Er beging Verrat, er widerstand, er zog sich zurück, er schuf. Er überlebte. Und er erzählt uns vom Überleben - und von Prophetie. Er ist für mich der Künstler, der jenes vergangene, kurze und dunkelste Jahrhundert am stärksten repräsentiert. Er ist wir.

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