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Schwerstarbeit. Schmidt in der Schmeling-Halle.

© Andi Weiland/Sozialhelden e. V.

Themenschwerpunkt Inklusion: Wie ein Tropfen im Strom

Im Sog von Heavy Metal: Mit dem Grafiker, Schriftsteller und Rollstuhlfahrer Benjamin Schmidt beim Motörhead-Konzert.

Am meisten ärgern Benjamin die, die meinen, er sei gar nicht „behindert“. Unter Verdrängung bucht er das ab. Und mit Verdrängung kennt er sich aus, hat es auch mit ihr versucht, kurz. Aber was helfe es ihm, nicht behindert zu sein, wenn er, der Rollstuhlfahrer, plötzlich vor einer unüberwindlichen Treppe stehe. Wie das nervt. „Es vergeht nicht eine Woche“, sagt Benjamin, „in der nicht irgendwo ein Fahrstuhl defekt ist, eine U-Bahn-Station zur Sackgasse wird.“ Wenn es normal läuft, muss er warten, bis Mütter mit Kinderwagen, Menschen mit Einkaufswagen, alte Menschen oder solche, die einfach zu bequem sind, den Lift benutzt haben.

Er wartet und wartet. Der Menschenstrom fließt weiter. Die Leute würden ihm helfen, sicher. Er hat auch kein Problem damit, um Hilfe zu bitten. „Aber ich will mich nicht ständig heben lassen, nur weil etwas, das funktionieren müsste, mal wieder kaputt ist.“ Um ein Tropfen zu sein, der in der Masse aufgeht, ein Partikel unter anderen Partikeln, wie es die Inklusionstheorie will, müsste Benjamin einfach mitfließen können.

Zuweilen erhebt sich ein imposanter Irokesen-Kamm auf Benjamins Haupt, doch heute hat er ein schwarzes Kopftuch um. Benjamin Schmidt trägt überhaupt nur Schwarz. Auch die Musik, die er hört, ist schwarz. Aber nicht, dass man da auf seine Seele schließen sollte. Er ist ein blasser junger Mann, 25 Jahre alt, mit etlichen Piercingringen im Gesicht, der die Tatsache schwer akzeptiert hat, dass sein Unterleib, seine Beine taub sind, der den Frust darüber durchlitten hat wie nur irgendwas. Nun lächelt er amüsiert. Vielleicht ist es die Vorfreude auf den Lärm. Er will Motörhead, die Großmeister des Hardrock, erleben. Ein solches Konzert ist der Prüfstein des Tropfen-Paradigmas. In der Max-Schmeling-Halle war Benjamin noch nie.

Die Organisation Aktion Mensch wirbt mit dem Bild eines Rollstuhlfahrers, der bei einem Rockkonzert über die Köpfe der Menge hinweg von einem Zuschauer zum nächsten getragen wird. Er reckt die Faust, wie alle das tun. Und er ist ein Tropfen, der über die anderen hinweggleitet.

Es gibt ein behindertengerechtes WC, aber da steht grade ein Typ im Rausch und pinkelt in die Schüssel.

Benjamin ist oft unterwegs, um Bands anzusehen. Als Grafiker einer Berliner Konzertagentur hat er da gewisse Privilegien. Andererseits auch wieder nicht. In seinem Kopf hat jeder Club seine eigenen Tücken. Da gibt es die Deckenspiegel im Hof 23, durch die er von hinten und als Sitzmensch indirekt auf die Bühne blicken kann. Sehr gut. Im C-Club lassen ihn die Security-Leute durch einen Nebeneingang in die erste Reihe. Im K 17 muss er immer eine halbe Stunde warten, bis sie sich geeinigt haben, ob er die Toilette im Backstage-Bereich benutzen darf. Die eine Etage höher ist für ihn unerreichbar. Im Huxleys ist es ein Lagerraum. Und nun in der Max-Schmeling-Halle das übliche Problem. Es gibt zwar ein behindertengerechtes WC, aber da steht gerade ein Typ im Rausch und pinkelt in die Schüssel. Das Waschbecken ist vollgekotzt.

Benjamin versperrt den Weg mit seinem Rollstuhl. Sehr breite Kerle mit Kinnbärten und Lederwesten stauen sich hinter ihm. Es wird hart und viel gesoffen auf Motörhead-Konzerten. Alle Männer haben Druck. Nicht gut für einen, der hygienische Bedingungen braucht. Da Benjamin einen Blasenkatheter benutzen muss, könnte er sich leicht eine Nierenentzündung einfangen. Sein Besteck hat er in einem Rucksack dabei, Wegwerfhandschuhe, Desinfektionsspray. Der Typ sagt, er sei gleich fertig. Ja, mach nur, sagt Benjamin. Er ist cool.

Im Treppenhaus kommen ihm Zweifel. Da hoch?

Schwerstarbeit. Schmidt in der Schmeling-Halle.
Schwerstarbeit. Schmidt in der Schmeling-Halle.

© Andi Weiland/Sozialhelden e. V.

Manche in seiner Lage würden sich isolieren, sagt er, weil sie sich überfordert fühlten. Ständig diese Angst, sich einzunässen. So viel sei zu bedenken. Wie komme ich zur Toilette? Schaffe ich es rechtzeitig? Und dann ist die wieder zu eng. Aber Benjamin fährt sogar mit Freunden auf Festivals, wo die Sanitärsituation, nun ja, bedenklich ist. Soll er sich den Spaß nehmen lassen, nur weil der in seinen Gedanken immer mit den Buchstaben WC verknüpft ist?

Im Treppenhaus der Max-Schmeling-Halle kommen Benjamin Zweifel. Da hoch? Für die regulären Rollstuhlplätze gab es keine Karten mehr. Nun müssen Benjamin und sein Kumpel Maas, ein groß gewachsener, gutmütiger Kerl, zu den Rängen unterm Dach gelangen. Maas packt den Rollstuhl, Benjamin reißt sich aus dem Sitz. Seine „unkomplette“ Querschnittslähmung erlaubt ihm ein paar ungelenke Schritte, mühsame Tritte. Gefühl in den Beinen hat er seit dem „Vorfall“, wie er das nennt, nicht. Sind taub. Jede Bewegung ist antrainiert. Als er im Bus einmal seine Beine übereinanderhob, zeterte eine Frau: Warum gehen Sie denn nicht? Darauf er: Bin ich Ihnen nicht behindert genug, oder was?

Tief unten sieht er, wie Motörhead die Halle umrührt

Das Treppenhaus ist nicht der einzige Aufgang. Das wird sich später zeigen. Einen Lift gibt es auch hinauf zur Galerie, wo Benjamin sich in seinem Rollstuhl vornüber auf die Brüstung lehnt, um Motörhead die Halle tief unten umrühren zu sehen. Wirbel bilden sich in der Menge, die Körper ausspucken. Chaotische Strudel physischen Glücks.

Der Lärm ist wie eine Gewitterwolke im Raum, die Hitze entlädt sich da unten. Benjamin schiebt sich eine randlose Brille auf die Nase. Motörhead lässt ihn ziemlich kalt. Trotzdem gut, die Band um Lemmy, den Unvergleichlichen, mal zu sehen.

Theoretisch ist es für einen Rollstuhlfahrer nicht schwerer, an Karten zu kommen, als für jeden anderen Menschen. Die großen Arenen wie die O2-World, das Velodrom oder die Max-Schmeling-Halle sind gehalten, 0,5 bis ein Prozent des Kontingents für Gehbehinderte zu reservieren. Selten sind diese Karten ausverkauft. Begleitpersonen können umsonst mit.

Benjamins Vater hörte nur Rockmusik. Das prägte den Sohn. Aber er wollte mehr. „Das Schockierendste, was ich hören konnte, war Punk.“ In seiner thüringischen Heimat – Benjamin wuchs in Pößneck bei Saalfeld auf – hingen die Punks mit den Gothic-Anhängern ab, bleichen Gestalten mit langen schwarzen Mänteln und asymmetrischen Frisuren. Es musste für Benjamin immer düsterer werden. Die totale Verzweiflung der Laute, die aus den Sängern von Death-Metal-Bands hervorbrach, das unartikulierte Grollen und Brüllen, fasziniert Benjamin als abstraktes Kunstwerk. Die Überstilisierung der Musik als rohe, kaum konturierte Gewalt erlaubt ihm Distanz und Hingabe zugleich.

Nach dem Moment, der alles änderte, traf er in der Reha auf jemanden seines Alters, der kannte kein Selbstmitleid. Der versuchte sich mit seinem Rollstuhl in der Halfpipe, bei den Skatern. Sie stürzten sich beide hinein. Schon das war herrlich. Zu wissen: „Man kann als Rollstuhlfahrer hinfallen und sich Schrammen holen. Man darf das auch.“

Seine Eltern erkannten das nicht sofort. Sie hatten ihr Kind wieder im Haus, ein schon zuvor für sie anstrengendes Wesen. Nun soff es und qualmte sein Dachgeschoss voll. Die Flaschen stapelten sich. „Ich konnte das ja auch schlecht wegbringen.“ Man versuchte ihm den Beruf des Bürokaufmanns schmackhaft zu machen. „Ein Graus.“ In seinem Kopf hingen Fragen wie nasser Schnee, immer schwerer wiegende Fragezeichen, die er absolut nicht mit seinen Eltern besprechen wollte.

Ihr Wunsch: Der Junge soll wieder glücklich werden.

Er: Ich bin 19 und impotent.

Das ist in dem Alter schlimmer, als nicht mehr gehen zu können. Heute hat Benjamin eine Tochter. „Es hat also doch irgendwann wieder funktioniert“, sagt er breit auflachend. Nur das mit der Gitarre, das klappte nicht. Er hatte in Bands gespielt, danach ergab sich das nicht mehr. Gitarristen sind Poser, letzte Helden einer gespreizten Männlichkeit.

Benjamin Schmidt schrieb stattdessen Gedichte und einen Roman über einen Verlierer namens Lucky, der es nicht aus seinem Trott schafft. Er bringt die Bücher im Eigenverlag heraus. In seinem nächsten wird es um ihn gehen. Der Titel lautet: „Schon immer ein Krüppel“.

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