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Kultur: Thomas Langhoff: So weit die Füße ragen

Da liegt ein Bein auf der Bühne. Es ragt hinter einem schwarzen Felsen hervor.

Da liegt ein Bein auf der Bühne. Es ragt hinter einem schwarzen Felsen hervor. Es gehört einem groß gewachsenen Ritter, der soeben den letzten Atemzug getan hat. Aber das Bein lebt noch. Es liegt im Weg. Und während vorn an der Rampe das Drama seinen Lauf nimmt, wird das Bein, peu a peu, eingefahren. Bis es hinter dem Felsen verschwunden ist. Wenig später wird der Hauptdarsteller, zwar dem Wahnsinn verfallen, aber noch putzmunter auf den Beinen, auf den Felsen springen, sich auf die Brust schlagen und mit einem Platzregen herausbrüllen: "Da ist noch Leben drin?" Im Bein, im Fels, in diesem Theater?

Alles war längst gesagt. Alle Bilanzen waren gezogen, alle Krokodilstränen geweint. Die Koffer sind auch schon gepackt. Thomas Langhoff, der scheidende Intendant des Deutschen Theaters Berlin, wird jetzt bei Dieter Dorn am Münchner Staatsschauspiel inszenieren und bei Klaus Bachler am Wiener Burgtheater. Das ist kein geringer Trost, wenn man nach zehn Jahren einmal gehen muss. Dem Haus wird der Wechsel gut tun - und dem alten Hausherrn, dem nun freien Regisseur Thomas Langhoff, vielleicht auch. Denn er war einmal ein guter, ein solider Regisseur, wenn man an seinen "Zerbrochnen Krug", seinen "Biberpelz", seine "Übergangsgesellschaft" denkt.

Alle Zeichen standen, viel zu lange schon, auf Halt, auf Abbruch, und es hat zu Beginn des Jahres ja auch eine schöne Abschiedspremiere gegeben: Thomas Langhoffs Inszenierung der "Möwe", in der das alte DT-Ensemble sogar eine gewisse Selbstironie zeigt und ein letztes Mal seine verwehten Qualitäten aufscheinen lässt. Bernd Wilms, der Nachfolger, wird diesen traurig-trotzigen Tschechow wohl übernehmen in seinen neuen Spielplan. Was will man mehr?

In der "Möwe" reden alte Schauspieler von alten Zeiten, und junge Künstler kämpfen um neue Ausdrucksformen. Eine Komödie hat Tschechow sein Stück genannt, und Thomas Langhoff machte daraus, wie im richtigen DT-Leben, die Tragödie einer Generation, die so lange abtritt, bis auch die Jungen sich erschöpft haben. Diese Symbolik hielt der Regie führende Intendant gerade so in der Balance. Aber das war Langhoff nicht genug - nicht deutlich genug. Und er setzt auf seine letzte Inszenierung noch eine allerletzte, finale, pompöse Abschiedsarie drauf - "König Lear", Shakespeares dunkelste Tragödie. Der König dankt ab, das Reich zerfällt in Chaos, Bürgerkrieg, Anarchie.

Langhoff ist Lear!? Sitzt die Kränkung, dass man ihm seinen Vertrag nicht verlängerte, so tief? Muss er sich derart überheben, zu schlechter Letzt, dass aus der Königs-Tragödie eine Komödie wird - freilich von der unfreiwilligen Art?

Langhoffs "Lear" scheint der Parole zu gehorchen: Es werden keine Gefangenen gemacht! Wir ziehen ab und hinterlassen verbrannte Erde. Ein Schauspieler wie Jörg Gudzuhn, früher einmal DT-Protagonist von Graden, schlurft als Graf Gloucester mit Gießkanne und englischer Mütze wie ein trotteliger Rentner über die Bühne. Ein Schauspieler wie Michael Gerber, aus der zweiten oder dritten Reihe des Ensembles, darf plötzlich den berühmten Narren spielen: ein witzloser, graumäusiger Nörgelbruder an Christian Grashofs Seite. Dieser Lear brüllt und schwitzt wie ein Stier, eine fürchterliche Charge. Warum tut Langhoff sich und seinen Leuten das an?

Keiner kommt ungeschoren davon. Die drei Töchter Lears: ein somnambuler Backfisch (Claudia Geisler als Cordelia) und zwei Matronen (Cornelia Schirmers Regan und Katrin Kleins Goneril). Man mag die Schauspieler gar nicht alle nennen, die Albanys und Cornwalls, die Herzöge und Ritter, um ihnen keinen Tort anzutun. Selbst Frank Seppeler, den man am Maxim Gorki Theater schätzen gelernt hat, muss als leidgeprüfter, verlorener Sohn Edgar in das Bretterbuden-Gebrüll einstimmen. Kaum einmal eine ruhige Stelle, nicht ein konzentriert vorgetragener Gedanke in diesen reichlich dreieinhalb Stunden. Brüllen, schreien, blaffen, bellen. Blitz und Donner, Windmaschine, Unheil dräuende Zwischenmusik. Und immer mit Ansage: "Gehn wir ins Haus, ein Sturm kommt auf", sagt einer, und schon bläst und knattert der Spuk los. Und Karl-Ernst Herrmanns vergoldeter Bühnenkasten bricht überraschend just an dem Spalt auseinander, den man eine Ewigkeit bereits im Auge hat - als Sollbruchstelle.

Grashofs Lear wirkt wie ein wilhelminischer Bürger, dem man die Ehre abgeschnitten hat, in einem Stück von Carl Sternheim, sagen wir mal. Eine Frau hat er nicht mehr, er knutscht seine Töchter lange auf den Mund. Und das ist neu: Langhoff entdeckt die Erotik. Und nicht zu knapp. Da greifen sie sich in den Schritt und werden richtig heiß, wenn das Blut fließt. Die Peinlichkeit, die Komik erreicht ihren Höhepunkt, als Regan einen ihrer roten, hochhackigen Schuhe auszieht, ihn wie ein Hackebeilchen schwingt und ihrem Ehemännchen bedeutet: Ein Auge hat er noch! Will sagen: Gloucester kriegt den Schuh aufs Auge gedrückt, das andere hat man ihm schon ausgerissen. Die Untat wird halb auf der Bühne, halb in der Kulisse begangen. Schreie aus dem Off, auf den Brettern zucken die Beine des Gemarterten, oh Graus.

Beine und Schuhe: Sie ziehen sich leitmotivisch durch den Abend. Die Frauen stolzieren in sexy Stiefeln und Galoschen umher (Kostüme: Joachim Herzog), und an der schmerzhaften Beinarbeit erkennt man, dass sie hier alle nach einem Halt suchen. Oder einem Absprung. Vielleicht schaut man aber auch deshalb nach unten, auf die Füße der Schauspieler, weil man das Brüllen und Grimassieren nicht mehr erträgt. Weil es weh tut: Thomas Langhoff hat das Deutsche Theater seit der Wende geführt. Es war, es blieb eine ostdeutsche Wagenburg. Es verwandelte sich in ein Museum, anders als Frank Castorfs Volksbühne, anders als das Gorki Theater, das sich öffnete, anders auch als das Berliner Ensemble vor Peymann, wo viel riskiert und viel verloren wurde.

Wann aber hat das angefangen - der Abstieg, die Abschottung, die stille Anarchie in der Schumannstraße? Thomas Langhoff hat den Fehler jener Machthaber selbst begangen, die er verachtete. Er gab den Jungen, den Oppositionellen einen gewissen Spielraum - man denkt an Thomas Ostermeier und die DT-Baracke -, und dann ließ er sie ziehen. Und er hat zu spät erkannt, wann die Zeit des Abdankens gekommen war.

Rüdiger Schaper

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