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„Ich bin immer wieder ein anderer – das ist die totale Diskontinuität“. Autor Thomas Melle.

© Dagmar Morath

Thomas Melle im Gespräch: „Ich bin nicht der Maniker der Nation“

Am Montag wird der Deutsche Buchpreis verliehen: Ein Gespräch mit Thomas Melle über sein Leben mit einer bipolaren Erkrankung und sein Buch "Die Welt im Rücken".

Herr Melle, hatte das Schreiben Ihres Buches „Die Welt im Rücken“ therapeutischen Charakter?

Thomas Melle: Nein! Ich höre das nicht gern. Für mich war das primär eine literarische Herausforderung: Die manisch-depressive oder – bipolare – Erkrankung ist bislang nicht gut beschrieben worden, der wollte ich eine adäquate literarische Form geben. Es geht um die Krankheit, nicht nur um mich. Ich habe den Blick von innen und konnte dann trotzdem von außen draufschauen. Klar, es war eine Notwendigkeit für mich, dieses Buch zu schreiben, persönlich und vor allem für mich als Schriftsteller. Wenn Sie so wollen: eine werkimmanente Notwendigkeit.

Zu Beginn schreiben Sie, es sei gefährlich, sich aktiv und analytisch mit der eigenen Erkrankung auseinanderzusetzen, es strenge an und schmerze. Inwiefern?

Die Gefahr hätte sein können, dass ich mich zu sehr in diese extremen Emotionen hineinsteigere, dass die vergangenen Dinge zu gegenwärtig werden. Aber so war es nicht. Ich habe die Erzählzügel nie aus der Hand gegeben, hatte immer die Kontrolle, konnte in meine Vergangenheit hinein- und hinausschlüpfen wie in eine fremde Rolle. Meine Erkrankung war immer der neuralgische Punkt meiner Bücher. Nur wurde sie darin stets über Bande thematisiert. In Interviews habe ich auf Fragen nach meinen Recherchen oft gesagt, dass ich Ähnliches auch schon erlebt hätte. Ich wollte, dass das jetzt alles offen zur Sprache gebracht wird. Und ich wollte für mich selbst die verschiedenen Halb-Ichs, Halb-Wesen meiner Bücher auf mich zurückführen.

Trotz der Risiken, der Anstrengung – wie weh hat es beim Schreiben getan?

Es ging. Vielleicht deshalb, weil ich wirklich alles auf einen Nullpunkt gebracht, meinen Ground Zero präzise abgebildet habe – da ist man gewappnet. Das hatte während des Schreibens auch etwas von einer Befreiung.

Und jetzt, nach der Veröffentlichung ? Fühlen Sie sich immer noch befreit?

Natürlich bin ich nun festgeschrieben als der Manisch-Depressive, das ist jetzt mein Stempel für die nächsten Jahre. Damit bin ich aber einverstanden. Während des Schreibens war mir klar, dass das Ganze nicht so ein autobiografisches Herumgeeier sein darf. Ich hoffe, dieser Verführung widerstanden zu haben.

Gab es die Versuchung, das Ganze auszuschmücken, zusätzlich zu fiktionalisieren?

Genau umgekehrt. Ich wollte es so wahrhaftig wie möglich, habe vieles gestrafft. Vieles ist mir später erst wieder eingefallen. Zum Beispiel, dass ich nach Sylt, wo ich meine Stipendiatenwohnung heruntergerockt hatte, nicht nach Berlin zurück-, sondern sofort nach Frankfurt zum Suhrkamp Verlag gefahren bin, um dort Rabatz zu machen. Viele meiner krassen Handlungen wusste ich gar nicht mehr. Mein Ziel war Wahrhaftigkeit. Obwohl ich weiß: Auch die ist nur ein Konstrukt. Sie muss durch eine Künstlichkeit, durch Formung gegangen sein, um möglichst real zu werden. Ein Paradox.

Wie haben Sie sich erinnert? Hatten Sie Tagebücher, Aufzeichnungen, haben Sie sich mit anderen Menschen unterhalten?

Nein, geschrieben kaum was, hin und wieder mich mit Bekannten und Freunden unterhalten. Es ist doch so mit der Erinnerung: Sie kommt allmählich, sie ist selektiv, sie hat fiktive Anteile, auch bei Gesunden, um die jetzt mal so zu nennen. Bei mir als Manisch-Depressivem liegt der Fall nochmal anders, ich glaube, ich bin da in so einer Mittelposition. Ein Chefarzt in der Psychiatrie meinte zu mir, Maniker würden sich an alles erinnern. Eine Kollegin von ihm wiederum, die selbst an der Krankheit leidet, sagt, die Manie sei eine gnädige Krankheit, die kaum Erinnerungen produziere. Bei mir stimmt beides nicht. Ganze Phasen, habe ich den Eindruck, sind komplett gelöscht. Dann reicht wieder ein Satz von irgendjemandem, und ich werde angetriggert. Viele Szenen und Sequenzen stehen dann ganz plastisch vor mir. Alles, was ich geschrieben habe, habe ich genau so erinnert.

Sie sprechen viel von Nullpunkt, Bannung, Neutralisierung, Rückeroberung. War das das Grundmotiv Ihres Schreibens?

Ja. Das Katastrophale an der Krankheit ist doch: Man ist in der Manie ein anderer, genau wie in dieser entleerten Depression, die vor allem von der Scham besetzt wird. Wenn beides abgeklungen ist, ist man wieder jemand anders und weiß gar nicht mehr, was los ist und wie man mit sich und den beiden anderen Ich-Formen als Maniker und Depressiver umgehen soll. Das alles ist die totale Diskontinuität. Ich wollte das in ein Kontinuum bringen, es als Geschichte erzählen, die ihre Lücken dennoch nicht verschweigt.

Die manischen Phasen nehmen bei Ihnen mehr Raum ein als die depressiven – obwohl letztere die gefährlicheren sind. Sie haben zwei Suizidversuche hinter sich.

Der Wille, weg zu sein, ist riesig. Jeder hat seine Wahl der Methode. Das ist ja der finale Abgang, man möchte nicht als Matsch enden. Ich habe versucht, die Depression so gut zu fassen wie die Manie, nur gibt es weniger über sie zu erzählen. Manie ist Überfülle, Depression ist Monotonie, Leere, Schmerz. Gerade die Manie aber muss erhellt werden, da gibt es Erklär- und Erzählungsbedarf.

Ist Ihre Erkrankung aber überhaupt noch ein Tabu? In den Medien wird sie doch immer wieder zum Thema gemacht.

Die Depression, ja. „Burn-Out-Syndrom“ heißt sie oft, um sie handhabbarer zu machen, schön neoliberal in eine Erfolgsgeschichte einzubetten: Der hat viel geleistet, nun ist er zu Recht erschöpft. Jeder kennt Melancholie, eine bestimmte Niedergeschlagenheit, das aber ist gerade mal der Zipfel einer Depression. Bei der Manie ist das komplett anders. Begegnen Sie einmal einem Maniker wie mir, mit vielen paranoiden Anteilen. Der wird in die Verrücktheit regelrecht katapultiert, der verhält sich total bizarr, das ist außerhalb jeder Verständlichkeit. Die Manie ist unheimlich, auch für die Um- und Außenwelt. In der harten manischen Phase gibt es keinen Sinn, die lässt sich nicht in gesellschaftliche Erzählzusammenhänge integrieren. Das ist wirklich ein Tabu, weil es sich jeglicher Einordnung entzieht.

Es gibt allerdings auch die Erzählung vom genialen Wahnsinnigen einerseits, der Krankheit, die Kunst erst möglich mache. Andererseits die von der angenehmen Seite der Manie, dass nämlich die Erkrankten sich in der Phase ganz wohl fühlen.

Beides ist im Großen und Ganzen falsch. Diese künstlerische Produktivität gibt es höchstens bei Hypomanen. Ich war dazu gar nicht in der Lage. Alles, was ich in dieser Zeit schrieb, ergab keinen Sinn. Bei der Depression geht sowieso nichts. Wenn die paranoid-psychotischen Elemente in den Vordergrund drängen, ist das nicht angenehm, die Gefühle, die Blicke, die bedrohlichen Zeichen, die auf dich einstürmen. Auch die Manie hat eine sehr dunkle, sehr einsame Seite. Von der weiß kaum jemand.

Wie wurde Ihr Buch in der medizinischen Welt aufgenommen? Werden sie dort jetzt auch eingeladen?

Ich bekomme tatsächlich Einladungen, zu Krankenkassenveranstaltungen oder in Krankenhäuser zu Lesungen. Aber ich bin nicht der Maniker der Nation. Mein Verlag und ich haben die Abmachung, dass wir mein Buch als rein literarisches Buch behandeln. Ich trete nur in Literaturhäusern und Buchhandlungen auf, in Literaturzusammenhängen. Ich begrüße es, wenn sich jemand angesprochen fühlt, sich wiederfindet oder das Buch als Hilfe versteht. Der oder die kann aber auch in die Literaturhäuser kommen.

Wie ist das, dauernd über sich selbst und die eigene Krankheit zu sprechen – nicht über literarische Figuren? Gehen Sie sich nicht selbst auf die Nerven?

Völlig. Das begann schon mit dem zweiten oder dritten Interview. Die Sätze werden unwahr, sind eh von Anfang an unpräzise, was sicher auch mit dem Format des Interviews zu tun hat. Man versucht zu simplifizieren, bekommt die Sachen nicht auf den Punkt. Es ist dann aber wieder so: Ich rede über mich wie über eine literarische Figur – doch, es ist alles in Ordnung, das ist jetzt keine schizoide Abspaltung, Sie brauchen nicht so besorgt zu gucken! (Lacht.) Ja, es kommt mir immer mehr vor, als würde ich in einem Roman leben. Die Leute schauen mich an und sagen: Das ist doch der Typ aus dem Buch! Was macht er jetzt, geht er wieder ab, wo bleibt das Happy End? Und wie die Geschichte weitergeht, kann ich nicht sagen. Wer weiß das von seinem Leben schon? Ich sehe das alles als Dienst am Buch. Sie sind allerdings jetzt der vorerst letzte Gesprächspartner, dem ich in dieser Form Rede und Antwort zu dem Buch stehe. Bald wird Ruhe im Karton sein.

In einem der Interviews sagten Sie, Sie seien früher ein Schriftsteller des Unglücks gewesen. Jetzt würden Sie versuchen, einer des Glücks zu sein.

Sehen Sie, das ist einer dieser Sätze, die ganz schnell falsch werden. Viel zu programmatisch klingt das. Ich würde jetzt lieber von einer helleren Grundierung der Texte sprechen, es muss nicht immer um die Großstadt und um Ich-Krankheiten gehen, so wie bislang. Früher war viel Dunkelblau und Schwarz, jetzt gibt es mehr eine Tendenz ins Hellblaue.

Das nehmen wir jetzt in dieses Interview!

Gut! Über Glück in meinem Leben zu schreiben, ist wirklich nicht einfach. Es ist alles offen gerade. Leben wie Schreiben. Ich denke, dass ich ein paar Ketten auf beiden Seiten abgesprengt habe, Ketten, die mich gefesselt und beschäftigt haben. Es ist ein Befreiungsschlag. Selbst wenn das ein Klischee sein sollte. Sich frei schreiben und atmen, darum geht es.

Ihr Buch endet mit der Hoffnung, nie wieder manisch zu werden. Wenn doch, soll Ihnen jemand dieses Buch zeigen. Glauben Sie wirklich, dass das funktioniert?

Warum nicht? Als ich das geschrieben habe, meinte ich das durchaus ernst. Natürlich ist das ein dramaturgischer Kniff, ein starkes, pathetisches Ende. Der letzte Satz heißt ja „Dann werden diese Zeilen wie ein Gebet sein", was sich auf Madonnas Song „Like A Prayer" zu Beginn bezieht. Dort schreibe ich über den von mir während meiner Manie imaginierten Sex mit Madonna. Das ist eine schöne Klammer. Wer weiß: Wenn es wirklich so kommen sollte, ist das Buch womöglich ein Antidot gegen meine paranoiden Strukturen. Vielleicht hat es wirklich eine neutralisierende Funktion. Eins jedoch muss klar sein: Mein Buch ist kein Zauberbuch, kein Medikament, keine Therapie!

Das Gespräch führte Gerrit Bartels

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