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Und Friede den Menschen. Der Engel mahnt Calvin, den Papst und Luther. Anonymes Gemälde aus dem Utrechter Museum Catharijneconvent (nach 1600). Foto: akg-images

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Toleranz: Die Tugend schwacher Wesen

Was uns "Toleranz" bedeutet, vertikale und auch horizontale. Einige Gedanken in gebotener Kürze.

Da ich an keine Entelechie der Sprache, die auf Verstehen oder Verständigung hinausliefe, glauben kann, vielmehr die Sprache ein Instrument ist, das zu allem taugt, wozu es eben taugen kann, und sich da nichts vor anderem auszeichnen lässt, so ist der besondere Wert von Verstehen und Verständigung nicht als gegebene Norm anzusehen, sondern als etwas, auf das wir im Laufe einer ihrerseits auf nichts gerichteten Geschichte uns angewöhnt haben, Wert zu legen.

Am Anfang steht also die Einsicht in die Kontingenz dieser Wertorientierung – was aber nun (bekanntlich) nicht auf Beliebigkeit hinausläuft. „Sultan, ich bin ein Jud’“, sagt Lessings Nathan auf die Frage Saladins, welcher Glaube ihm am meisten eingeleuchtet habe. Saladin lässt diese Antwort so nicht gelten: Ein Mann wie Nathan bleibe dort nicht stehen, wo der Zufall der Geburt ihn hingestellt habe, und bleibe er, so aus Gründen.

Im Zentrum der Lessing’schen Bühnenpoetik stand das „Mitleid“, wir würden heute von „Empathie“ sprechen: Identifikation auf Zeit mit einem fremden Schicksal. Diese Identifikation hat aber eine Rückwirkung auf den Betrachter. Die Tragödie auf der Bühne konfrontiert im Modus der Empathie den Zuschauer mit der Fragilität der eigenen Existenz und schafft damit ein Motiv für Gemeinsamkeit: Einsicht in die Fragilität unseres Daseins.

Ein anderer Autor der Aufklärung, Christoph Martin Wieland, wählte für die wichtigsten seiner politischen Schriften die Form des Zwiegesprächs. Es wurde der verhandelte Gegenstand im Gespräch, im Pro und Contra, in unterschiedlicher Beleuchtung vorgeführt. Ziel war nicht, eine Seite „gewinnen“ zu lassen oder überhaupt einen Konsens herbeizuschreiben, sondern die Demonstration, dass eine Ansicht, die vielleicht der des Lesers widersprach, auch mit Gründen vertreten werden konnte (innerhalb gewisser Grenzen, versteht sich).

Ziel war also Einsicht in die anfängliche Kontingenz des eigenen Standpunkts, seine Reflexion in der argumentativen Auseinandersetzung mit anderen Standpunkten, seine Revision oder seine Bestätigung als Resultat dieser Reflexion. Um solche Reflexion geht es: Sie setzt die Einsicht in die Kontingenz der anfänglichen Ansicht ebenso voraus, wie die in die Unabgeschlossenheit des Reflexionsprozesses, woraus sich der Verzicht auf die Ansicht ergibt, irgendwann irgendwo gelandet zu sein, wo sich erübrige, sich weiter umzusehen und möglicherweise weiterzugehen.

„Toleranz“? Kant nannte den Begriff „Toleranz“ einen „hochmüthigen Namen“, denn ein Fürst habe es für seine Pflicht zu halten, „in Religionsdingen den Menschen nichts vorzuschreiben“. „Dulden“, schrieb Goethe, heiße „beleidigen“. Mirabeau schrieb, die Religionsfreiheit sei „ein so heiliges Recht“, daß ihm das Wort „Toleranz“ durch das „Vorhandensein einer Macht“, die Toleranz „gewähren“ könne, „tyrannisch“ vorkomme. Woher diese Affekte gegen einen Begriff, den Condorcet (in seiner Vorrede zu Voltaires Bericht über den Fall Calas mit dem Titel „Über die Toleranz“) ein „Recht“, eine „Pflicht“ und ein „Gesetz“ nannte?

Es handelt sich um die fortschreitende Einsicht, die französisch 1789 anders entwickelt war als 1762, wo Voltaire die bürgerlichen Freiheiten noch als Geschenke des Monarchen ansah, die gewährt (und also auch möglicherweise wieder entzogen) werden. In Deutschland hatte der Westfälische Friede den Grundsatz des Augsburger Religionsfriedens „cuius regio, eius religio“ erneuert und erweitert: Der Untertan habe sich nun nicht mehr zur Religion des Landesherrn zu bekennen, es war ihm aber nicht eingeräumt, seine Religion öffentlich auszuüben.

Der Begriff Toleranz trägt seine Vertikalität traditionell mit sich herum: Der Mächtige gewährt dem weniger Mächtigen etwas. Diese hoheitliche Verfügungsmacht steht im Konflikt mit jeder Vorstellung einer für alle Seiten verbindlichen Rechtsordnung. Das ist der Grund für Kants und Mirabeaus Affekt. Nun halte ich nichts davon, Begriffsbedeutungen auf ihren Entstehungskontext (gar auf ihre Etymologie) festzulegen, aber es dürfte nicht leicht sein, die vertikale Orientierung des Begriffs der Toleranz ganz zu übersehen oder zu überhören. Man denke sich den Vertreter einer religiösen, nationalen, ethnischen Minderheit, der sagte, er toleriere die Ansichten oder Befindlichkeiten der Mehrheit. Man würde zu Recht darin einen gewissen Sarkasmus vernehmen, denn was soll er denn sonst tun, außer zu emigrieren? Ich plädiere nicht dafür, den Begriff aufzugeben, aber doch dafür, sorgfältig auf seine Verwendung achtzugeben.

Es hat sich allerdings neben dem vertikalen auch ein horizontaler Begriff der Toleranz herausgebildet; man findet ihn zum Beispiel bei Jean Edmé Romilly in dem Artikel „Toleranz“ in der französischen „Enzyklopädie“: Toleranz sei „die Tugend jenes schwachen Wesens, das dazu bestimmt ist, mit Wesen zusammenzuleben, die ihm gleichen. Dem Menschen, der durch seine Intelligenz so erhaben ist, sind zugleich durch seine Irrtümer und seine Leidenschaften so enge Grenzen gesetzt, daß man ihm den anderen gegenüber nicht genug von jener Toleranz, jener Duldsamkeit einflößen kann, deren er selbst bedarf.“

Meine Frau und ich waren vor einiger Zeit in Jerusalem und besuchten dort unter anderem das „Adam Institut“. Die Einrichtung befasst sich mit vielen Fragen interreligiösen Ausgleichs und ist auch als Mediator in Konflikten tätig. Wir ließen uns die Arbeitsweise des Instituts erläutern – beim gemeinsamen Abendessen. Irgendwann sagte einer der Gastgeber: Das sei doch sehr schön – hier säßen Juden und Moslems (beiderseitig säkular wie religiös gestimmte) und Christen um einen Tisch und äßen und tränken zusammen. Ich ergänzte, auf meine Frau und mich zeigend: „Und zwei Atheisten.“

Es war zu merken, dass man so was in dem religiösen Klima Jerusalems nicht erwartet und uns gleichsam automatisch unter die Christen gerechnet hatte. Wir hätten so etwas wie ein „Außen“, das den Gruppenzusammenhalt unter Bedingungen interner Differenzen ermöglicht, sein können, aber an jenem Ort musste sich das Zeichen, unter dem man angetreten war, auch (um Max Weber und Jürgen Habermas zu zitieren) auf „religiös Unmusikalische“ beziehen. Der Kontext machte die Musik, eine andere Musikalität war nicht vonnöten. Das ist ungefähr das, was ich „Toleranz als horizontalen Begriff“ nennen möchte, und nur diese Verwendung scheint mir tolerabel.

Diese Art der Toleranz hat als bürgerliche Tugend ein rechtsstaatliches Skelett, das für Gleichberechtigung auch dort sorgt, wo es an der Tugend der horizontalen Toleranz mangelt. Darum erscheint es mir auch entbehrlich, ja falsch, von christlichen oder christlich-jüdischen Werten zu reden, wo es um das normative Gerüst unseres Gemeinwesens geht. Weder der Begriff der Menschenwürde, auf den sich unser Grundgesetz bezieht, noch die Maxime, Unrecht leiden sei besser als Unrecht tun, sind christlichen Ursprungs. Man braucht weder Religion noch den Rückbezug auf Religion, um Religionen – horizontal – zu tolerieren. Ich zitiere den Theologen Friedrich Wilhelm Graf: „Der freiheitliche Verfassungsstaat lebt (…) davon, dass er religiös neutral ist und dass zwischen moralischen, religiösen und rechtlichen Fragen prägnant unterschieden wird.“

Um das oben nur unvollständig zitierte Wort Goethes wiederaufzunehmen: „Toleranz“ – im vertikalen Sinne – „sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung seyn; sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen. Die wahre Liberalität ist Anerkennung.“ Darauf sind wir angewiesen: auf eine Rechtsordnung, die durchsetzungsfähig gegen Intoleranz ist, welcher Provenienz sie auch sein mag, und wir sind angewiesen auf wechselseitige Anerkennung, die letztlich in unserem Wissen um unsere Conditio beruht – von Natur aus sind wir fragil, und wir sind soziale Wesen, also zusätzlich besonders fragil.

Jan Philipp Reemtsma

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