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Tom Schilling im Jahr 1998.

© dpa/Nestor Bachmann

Tom Schilling zum 90.: Genau hinsehen

Der Berliner Choreograf Tom Schilling hat mit seinen Inszenierungen Tanzgeschichte geschrieben. Heute lebt er zurückgezogen. Eine Würdigung zum 90. Geburtstag.

Von Sandra Luzina

Beim Namen Tom Schilling denken die meisten heute an den famosen Schauspieler, Jahrgang 1982. Es gibt aber noch einen anderen Tom Schilling, der auf seine Weise viel bewegt hat in Berlin – als Begründer des Tanztheaters der Komischen Oper. Nach der umjubelten „Anatevka“-Premiere im Dezember, mit der das 70-jährige Bestehen der Komischen Oper gefeiert wurde, bat Intendant Barrie Kosky auch den langjährigen Ballettchef auf die Bühne. Nur der Überredungskunst Koskys war es zu verdanken, dass Tom Schilling sich noch mal zeigte. Der Geehrte wirkte an dem Abend durchaus vergnügt und schien sich über den herzlichen Applaus zu freuen. Dieser kurze Auftritt bleibt die Ausnahme, denn Tom Schilling hat sich schon vor Jahren aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Seinen 90. Geburtstag wird er heute wohl in aller Stille begehen. Alle Interview-Anfragen hat er jedenfalls abgeschmettert.

Tom Schilling, am 23. Januar 1928 im thüringischen Esperstedt geboren, hat Tanzgeschichte geschrieben. Er war Schüler von Mary Wigman und Dore Hoyer, beide bedeutende Vertreterinnen des deutschen Ausdruckstanzes. In Weimar versuchte sich Schilling zum ersten Mal als Choreograf. Von 1956 bis 1964 war er Ballettdirektor an der Dresdner Staatsoper. Es kursiert eine hübsche Anekdote darüber, wie Tom Schilling Berlin eroberte: 1965 lud Walter Felsenstein, der legendäre Intendant der Komischen Oper, den Choreografen und seine Solisten in die Behrenstraße ein. Hannelore Bey und Roland Gawlik zeigten einen dramatischen Pas de deux zu Debussys „La Mer“. Und Felsenstein, so wird erzählt, rief begeistert aus: „Ihr seid alle engagiert!“ Schilling wurde beauftragt, ein modernes Tanztheaterensemble aufzubauen. Den Bewegungskanon des klassischen Balletts verband er mit Elementen des Ausdruckstanzes, und er hat auch intensiv darstellerisch mit seinen Tänzern gearbeitet. Tanz war für ihn mehr als technische Perfektion. Tom Schilling wollte mit seinen Choreografien Geschichten erzählen, er wollte die Beziehungen von Menschen schildern, ihre Konflikte. Dabei war ihm immer der Gegenwartsbezug wichtig – und die Haltung. „Jede Geste bei ihm war Handlung“, so bringt es die einstige Solistin Angela Reinhardt auf den Punkt.

Leider sind seine Choreografien heute nicht mehr zu sehen

Tom Schilling schuf sinfonische Kammerballette wie „Abendliche Tänze“ und große Handlungsballette. Seine Neudeutung von Klassikern wie „Schwanensee“ (1978) und „Romeo und Julia“ (1983), die er gemeinsam mit seinem Librettisten Bernd Köllinger erarbeitete, bestachen durch eine sehr genaue Sicht auf die bekannten Stoffe. Zu den Werken, die auch international viel Anklang fanden, gehören „Abraxas“, „Schwarze Vögel“ und „Die Wahlverwandtschaften“.

1993 nahm er seinen Abschied von der Komischen Oper. 1998 fand dort die letzte Vorstellung von „Romeo und Julia“ statt – danach verschwanden seine Werke von den Spielplänen. Auch der 90. Geburtstag an diesem Dienstag wird nichts daran ändern, dass seine Choreografien heute nicht mehr zu sehen sind. Das liegt aber beileibe nicht daran, dass sich keiner mehr dafür interessiert. Sie werden nicht mehr aufgeführt, weil Tom Schilling die Lizenz verweigert. In den letzten Jahren ist das Interesse am Tanzerbe neu erwacht. Vielleicht überlegt es sich Tom Schilling ja doch noch mal anders und gibt die Rechte für eins seiner Ballette frei.

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