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Kultur: Tomas Tranströmer: Espressotrinker und andere Schmetterlinge

Zu internationalen Dichterfestivals gehört folgendes Ankunftsritual: Man verlangt an der Bar einen doppelten Espresso. "Im Tageslicht ein Punkt von einem wohltuenden Schwarz, / das schnell in einen bleichen Gast ausfließt.

Zu internationalen Dichterfestivals gehört folgendes Ankunftsritual: Man verlangt an der Bar einen doppelten Espresso. "Im Tageslicht ein Punkt von einem wohltuenden Schwarz, / das schnell in einen bleichen Gast ausfließt. // Er ähnelt den Tropfen aus schwarzem Tiefsinn, / die bisweilen von der Seele aufgefangen werden, // die einen wohltuenden Stoß geben: Geh! / Inspiration, die Augen zu öffnen."

Vorzugsweise in Paris gibt es jene Espressotrinker, die sich nach der Mahlzeit diesen kleinen "Stoß" verschaffen wollen. Nicht nur deswegen ist das "Espresso"-Gedicht aus einem privaten Vorrat an zeitgenössischen Gedichten kaum noch wegzudenken; es ist ein "kostbarer, aufgefangener Tropfen" - wie der Inhalt der kleinen Tassen im Gedicht von Tomas Tranströmer (zu finden in seinem dritten, 1962 in Schweden publizierten Band "Der halbfertige Himmel"). Aber es gibt bei Tranströmer nicht nur dieses Espresso-Schwarz. Seinen Gedichten entströmt manchmal auch ein frisches, nach Regen duftendes Grün. Es gibt Boote und Bootsstege und inmitten der schwedischen Schärenlandschaft auch das lyrische Ich des Träumers und Elegikers Tranströmer. Im Gegensatz zu seinem großen Antipoden Lars Gustafsson dürften ihn die Strukturalismusdebatten der sechziger und siebziger Jahre kaum erreicht haben.

Ist es altmodisch, in einem Gedicht Ich zu sagen? Eine Not, die in eine Tugend zu wandeln dem jungen Tranströmer bald gelang (auch wenn er skeptisch anmerkt, ob das seinem alten Lateinlehrer, welchem er die Kenntnis antiker Strophenformen verdankt, jemals zu Ohren gekommen sei). Indes: "In diesem Wechselspiel zwischen dem Klapprig-Trivialen und dem Federnd-Sublimen lernte ich eine Menge", rückt Tranströmer das Durchackern lateinischer Dichtung ins rechte Licht. "Es waren die Bedingungen der Poesie. "Es waren die Bedingungen des Lebens. Durch die Form (DIE FORM!) konnte etwas angehoben werden. Die Raupenfüße waren weg, die Flügel entfalteten sich."

Ja, die Flügel. Sie sind es, die den Dichter einer oft als beengt empfundenen Welt entheben. Bei ihm ist die Poesie kein Spiel und keine Pose, sondern ein notwendiger Gegenentwurf zur würdelosen Welt der Fakten. Schon früh ließ sich der junge Tranströmer eher von seinen Sinnen als vom Logos leiten: Eine Filialbibliothek seiner Heimatstadt Stockholm zog er der ehrwürdigen Hauptbibliothek vor, weil jene Wand an Wand mit einem öffentlichen Badehaus lag. Es roch nach Chlordampf, und er konnte die Stimmen der Badenden hören. "Spiegel sieht nur mein letztes Gesicht, ich spüre all meine früheren", wird er später schreiben.

Die Gefühle drängen in Tranströmers Gedichte wie Wasser in ein leckes Schiff. Als Psychologe hat Tranströmer in so genannten "sozialen Krisenmilieus" gearbeitet. Von der Einsamkeit ist oft die Rede; in der Natur scheint sie erträglicher als in den Städten. Als Kind sammelte Tranströmer Insekten, vor allem Käfer. Er besaß ein Spannbrett für Schmetterlinge und größere Vorräte an Essig-Äther. Auch wenn er diese Leidenschaft der Schriftstellerei opferte (er wäre sonst wohl der zweite große Schriftsteller-Entomologe neben Vladimir Nabokov geworden), die präparierten Insekten aus Kindertagen hat er heute noch. Und einige Insekten durchziehen als Metapherntiere seine Verse. Das Espresso-Gedicht beginnt so: "Der schwarze Kaffee auf der Terrasse / mit Stühlen und Tischen prächtig wie Insekten."

Am heutigen Ostersonntag wird Tomas Tranströmer siebzig Jahre alt. Es ist anzunehmen, dass man seine Gedichte noch lesen wird, wenn die Insektenkörper längst zu Staub zerfallen sind.

Volker Sielaff

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