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Die coolste Band des Universums. Ton Steine Scherben 1972 in Berlin. Der Dritte von rechtsist Rio Reiser.

© Rita Kohmann

Ton Steine Scherben: Tante Titti und das Rauch-Haus

40 Jahre „Keine Macht für Niemand“: Eine Kreuzberger Ausstellung erinnert an das legendäre Album der Band Ton Steine Scherben.

In der Marheineke-Markthalle gibt es alles, was bei besserverdienenden Kreuzbergern so auf den Tisch kommt. Die Dinkelmehlfladen heißen hier bezeichnenderweise „Schwäbische Seele“. Zwischen Bioschweinen und jungem Gemüse trotzt die Browse-Galerie tapfer der Gentrifizierung. Dieser Tage prangt eine Parole aus lang vergangener Zeit am Eingang: „Keine Macht für Niemand“.

Zur Besichtigung steht ein Kapitel Kreuzberger Musikgeschichte. Die Ausstellung „40 Jahre ,Keine Macht für niemand’“ handelt vom gleichnamigen Album der Berliner Band Ton Steine Scherben, die einst als Sprachrohr des Klassenkampfes galt. In den siebziger Jahren lieferte sie der linken Szene mit Liedern wie dem „Rauch-Haus- Song“ gewissermaßen den Refrain für Hausbesetzung und Straßenkampf. Der Geist jener utopischen Jahre hängt nun fein säuberlich gerahmt an den Wänden.

Eingangs tönt der zum Schlachtruf geronnene Refrain „Macht kaputt was Euch kaputt macht“ blechern aus einem Display im modischen Tablet-Format. Dass aber die Scherben-Musik weit mehr war als nur ein Soundtrack zum Mitgrölen auf Demos, das beweisen die unter Glas präsentierten Blätter des Songbooks „Guten Morgen“, das 1972 als Beilage zum Album „Keine Macht für Niemand“ in einem pizzagroßen Pappkarton beim Verlag David Volksmund Produktion erschien. Ein anderes Gimmick fehlt in der Ausstellung: Dem Album lag außerdem ein Spielzeugkatapult als selbstironische Referenz bei. Der Staat verstand damals keinen Spaß. Bei einer Razzia wurden die Kisten mit tausenden der in China bestellten Kinderspielzeuge als „Waffen“ beschlagnahmt.

Den Scherben ging es nicht nur um das Schießen mit Papierkügelchen. Immer wieder formulieren sie auch Sympathien für Terroristen. Neben einem Foto erschossener Palästinenser steht im Songbook ein Büchner-Zitat: „Weil wir im Kerker geboren und großgezogen sind, merken wir nicht mehr, dass wir im Loch stecken mit angeschmiedeten Händen und Füßen und einem Knebel im Mund“. Solche literaturhistorisch informierten Montagen tragen klar die Handschrift des Sängers Ralph Christian Möbius, der unter dem Namen Rio Reiser das auratische Zentrum der Band war und später eine erfolgreiche Solokarriere machte. Sein Pseudonym hatte er sich bei dem deutschen Dichter Karl Philipp Moritz ausgeliehen.

Kontrastiert werden die Selbstzeugnisse von den erstmals gezeigten schwarz- weißen Fotos von Rita Kohmann. Die Absolventin der Folkwang-Schule lebte zeitweise in der Berliner Wohngemeinschaft der Band am Tempelhofer Ufer 32, einer polizeibekannten Adresse. Hier ging das linke Berlin ein und aus. Intime Porträts zeigen die Scherben in ihrem Alltag: den Flötisten Jörg Schlotterer vor dem Haus, den Schlagzeuger Klaus „Funky“ Götzner beim Meditieren in Latzhose, Reisers Lebensgefährten und Gitarristen Ralph Peter Steitz, besser bekannt als RPS Lanrue, beim Gemüseputzen und natürlich Reiser selbst: mal konzentriert am Aufnahmegerät und mal mit Hund im Arm bei einer Party. Dazu Porträts, die das WG-Leben illustrieren, wie das einer barbusigen Besucherin mit WG-Katze Tante Titti.

Die Berliner WG-Zeit endete 1975 nach drei Jahren. „Wenn es Probleme gibt, kann jeder ’ne Vollversammlung verlangen, auf der wir so lange reden oder uns anschreien, bis alle das Problem sehn“, formulierte der programmatische Text „Wie wir leben“. Manche Probleme ließen sich so nicht lösen. Heute schwelt zwischen der neu formierten Band und der Familie des 1996 verstorbenen Sängers ein Erbstreit. Ausgerechnet zum 40. Jubiläum ist das programmatische Album „Keine Macht für Niemand“ deswegen nicht mehr im Handel. Das als Reiser-Gedenkstätte dienende Landhaus, in das die Berlin-müden Musiker sich zurückgezogen hatten, wurde verlauft, Reisers Gebeine aus Fresenhagen in seine Taufgemeinde auf den Alten St.-Matthäus-Kirchhof in Berlin-Schöneberg umgebettet.

Unterdessen schreitet die Musealisierung voran: Kürzlich wurde im westfälischen Unna die erste Straße nach Rio-Reiser benannt. Zur Einweihung erklangen die einstmals radikalen Texte – dargeboten von zwei lokalen Chören. So findet die einst heftig umstrittene Musik allmählich Eingang ins nationale Liedgedächtnis. Der Traum ist aus. Bodo Mrozek

Bis 22.9. tgl. 10-20 Uhr, Browse Gallery, Marheineke Markthalle am Marheinekeplatz 15, Konzerte und Gespräche: 17. u. 18.9., im Theater Tiyatrom, Alte Jakobstr. 12

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