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TOR!: Am Schlesischen

Früher war hier Schluss, Ende der Welt, Abpfiff. Der Weg dahin schien lang.

Früher war hier Schluss, Ende der Welt, Abpfiff. Der Weg dahin schien lang. Kreuzberg 36, der ferne Osten des Westens. Die Türme der Oberbaumbrücke standen wie ein Vorposten des Kremls. Dann und wann ging’s in die Cuvrystraße, zur Schaubühnenprobebühne. Wunderbare Inszenierungen von Klaus Michael Grüber – „An der großen Straße“, sein unvergesslicher Tschechow; „Catherina von Siena“, ein Stück von Lenz bei Kerzenschein. Wenn die Schaubühne dort spielte, war sie die beste freie Gruppe der Welt. Der Ort mit den runden Ecken heißt jetzt Lido, und während der WM …

Halt! Hier soll es gerade nicht um Fußball gehen, und da ist es schon wieder passiert. Aber man darf sich vielleicht ein paar Gedanken darüber machen, warum Theaterleute meist auch Fußballfans sind (umgekehrt gilt das weniger). Es muss am Gedächtnis liegen. Jene Szenen aus dem Grüber’schen Tschechow – wie die Schauspieler da hockten, stumm und bedrückt, wie der Dreck der russischen Provinz, das Schwerblütig-Archaische der Orthodoxie greifbar wurde – haben sich eingeprägt wie große tragische Momente auf dem Spielfeld. Fußball lebt von der Erinnerung, vom Moment und vom Vergleich. Im Theater ist es aber so, dass immer nur die Niederlagen die Höhepunkte sind. Denn die wirklich großen Auftritte, das liegt in der Natur der Sache, drehen sich um menschliche Tragödien, Schmerz und Tod, man könnte sagen: Tschechows Menschen leben die Niederlage und richten sich in ihr ein, allenfalls besteht einmal zwischendurch Hoffnung auf ein ehrenvolles Unentschieden. Also bestehen die wahren Glücksmomente der Kunst darin, Unglück und Elend in schönster Vollendung zu durchleiden.

Das Fußballgedächtnis speichert Spielzüge, Torschüsse – wie Müllers blinde Vorlage für Podolskis schlesisches Hammertor –, das Theatergedächtnis funktioniert ganz ähnlich. Wie da, es muss 1984 gewesen sein, die Tür plötzlich aufgeht und eine elegante Dame erscheint, von links, und die zerlumpten Gestalten an Tschechows „Großer Straße“ in der Cuvrystraße sehen ein überirdisches Licht, ein Wesen von einem anderen Stern, und der Schrei erstirbt ihnen auf den Lippen.

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