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TOR!: Mund auf

Es geht um das, was dem Kick folgt. Nicht um den Kasten aus Pfosten und Netz, der könnte auch mehr Silben haben.

Es geht um das, was dem Kick folgt. Nicht um den Kasten aus Pfosten und Netz, der könnte auch mehr Silben haben. Aber er würde nie im Leben so viel Sprache in Gang setzen. Die deutsche Schriftsprache stellt es ja bildlich dar, mit etwas Rundem, das ins Eckige knallt – seitlich betrachtet. Mit der Staubspur des R ballert das O in das riesige eckige T.

Sprachwissenschaftlich lässt sich die Bezeichnung für das extrem emotionale Ereignis (bei einer kleinen Verbiegung der Kategorien) als Interjektion fassen: Wie „Ahhh“ bei Erstaunen und „Ihhh“ bei Ekel kann die erste Reaktion, die aus den Tiefen des limbischen Systems kommt und in Laute gefasst werden will, nur einsilbig sein. Vorangestellt ist ihr der Plosivlaut T, der die angestaute Luft durch das Hinfiebern auf das Ereignis explosionsartig entweichen lässt. Weil man den Mund vor lauter Emotion noch weiter aufreißt, wird das Ereignis aber eher mit offenem als mit geschlossenem O kommentiert – von den Möglichkeiten der Vokal-Längung zu schweigen: Toooooor!

Auch lässt sich hemmungslos zurückfallen in frühe Phasen des Spracherwerbs, etwa in die Lallphase des ersten Lebensjahrs. Und wie bei „Papa“ und „Mama“ als erste Wörter, in denen Silben wiederholt werden, wird auch das Tor gerne wiederholt, drei Mal oder – legendär – sogar vier Mal. Schon fällt einem die andere, ebenso historisch gewordene Wiederholung ein, sechs Minuten später: „Aus, aus, aus!“ Sodann erreichte die Sprachproduktion des Kommentators Herbert Zimmermann beim Wunder von Bern die linke Hemisphäre des Gehirns, wo die Syntax sitzt: „Das Spiel ist aus!“ Folgten all die Texte der (Fußball)-Geschichtsschreibung, die uns bis heute so berühren.

Den entscheidenden Kick hatte 1954 übrigens kaum jemand gesehen; public viewing war in der Frühphase des Fernsehens noch Zukunftsvision. Stattdessen gab es public hearing an den Radios, die statt Bildern Sprache ausstrahlten. „Auch Fußball-Laien sollten ein Herz haben“, keuchte Zimmermann in seiner Euphorie. Haben sie. Und als Menschen das Herz auf der Zunge. Sprachloser Fußball ist bis heute eigentlich nix. Kein Herz, nirgends. Wer nach einer WM noch glaubt, Syntax mache die Sprache aus, ist ein armer Tor.

Bisher erschienen: Torschluss (13. 6.), Torgesänge (15. 6.), Schlesisches Tor (17. 6.), Porta Nigra (21. 6.), Reiner Tor (23. 6.), Donnergott Thor (29. 6.), Höllentor (2. 7.)

Brigitte Jostes

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