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Kultur: Traditionspflege für Kriegsversehrte

KLASSIK

Warum schlagen die meisten Pianisten einen Bogen um die Klavierkonzerte für die linke Hand, die unter anderen Ravel und Prokofjew für den legendären Paul Wittgenstein komponiert haben, der im Ersten Weltkrieg seinen rechten Arm verloren hatte? Vielleicht deshalb, weil es für einen Musiker nur schwer zu ertragen ist, ein ganzes Konzert hindurch ausgerechnet die rechte Hand auf dem Schoß zu halten. Für die junge polnische Klaviervirtuosin Ewa Kupiec schien das offenbar keine besondere Anstrengung zu sein. Sie servierte Prokofjews Konzert im Berliner Konzerthaus mit dem BSO unter Sergej Baudo begeisternd leicht und doch außerordentlich beherrscht. Ihre Linke wirkte virtuoser und energievoller als die Rechte manch anderer Pianisten. Vor allem aber zeigte Kupiec, dass das Prokofjew-Konzert in seiner grotesken Sprungtechnik origineller ist als sein von jeher zwiespältiger Ruf. Dieses Konzert, das Wittgenstein nie gespielt hat („verstehe keine einzige Note", schrieb er an Prokofjew), hob erst 1956 der einarmige Weimarer Pianist Siegfried Rapp in Berlin aus der Taufe. Auch die 1. Sinfonie „Jeremiah“ von Leonard Bernstein war eine Quasi-Erstaufführung. Der Stil des 24-jährigen Bernstein ist bereits hier so strawinskynah wie hymnisch beschwörend, insbesondere im Finale bei den von Marilyn Schmiege mit schmerzdurchdrungenem Espressivo gesungenen Klageliedern über das zerstörte Jerusalem. Serge Baudo, der den Abend mit der aus dem Rahmen fallenden „Karneval"-Ouvertüre von Dvorak laut, aber lahm eröffnete, leitete das markant musizierende BSO mit überlegenem Dispositionsvermögen und dezentem emotionalen Engagement.

Eckart Schwinger

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