zum Hauptinhalt

Transmediale: Zeltstadt für digitale Nomaden

Vom Nordpol lernen: Wie auf der Transmediale die materielle Welt schmilzt und uns rettet. Dabei geht es nicht um die Klimakatastrophe, sondern um eine Geisteshaltung.

Einst lag im Norden die Grenze, das Ende der Zivilisation. Ein Sehnsuchtsort. Jetzt, wo das Eis taut, ist die Zivilisation selbst bedroht. Doch dahinter öffnet sich eine neue Welt. "Deep North", der Titel der diesjährigen Transmediale, ist keine geografische Bezeichnung, wie der künstlerische Leiter Stephen Kovats betont. Es gehe nicht um die Klimakatastrophe, sondern um eine Geisteshaltung. Um die Möglichkeit, den globalen Herausforderungen mit kulturellem Wandel zu begegnen.

Wenn das Festival für multimediale Künste am nächsten Mittwoch eröffnet wird - am gestrigen Donnerstagabend begann bereits das begleitende Clubprogramm -, wird das Haus der Kulturen zwar spielerisch zur Arche, die aus dem gestiegenen Meeresspiegel ragt. Ansonsten hält sich die Klimawandel-Folklore mit auf Schollen treibenden Eisbären jedoch in Grenzen. Ein Öko-Fest, das die Kunst vor den Karren der Weltverbesserer spannt, ist nicht zu befürchten. Es geht um mehr als schmelzende Polkappen.

Auch um schmelzende Plattensammlungen. Gehören für einen 40-Jährigen noch wie selbstverständlich Hifi-Anlage, Schallplatten und CDs zur popkulturellen Hardware, hat sich für einen 19-Jährigen Musik auf dem Computer verflüssigt. Mit "Index" hält Jon Rohlf, Künstler und Mitveranstalter des Club Transmediale, diesen Wandel fest - in Explosionszeichnungen und einer akribischen Auflistung von Tonträgern und MP3-Dateien erfasst er die Entmaterialisierung der Archive.

Die Ausstellungsarchitektur deutet diesen Gedanken weiter aus. Die improvisierte Zeltstadt ist nicht nur eine poetische Reminiszenz an Flüchtlingslager, sie würdigt auch die digitalen Nomaden, die angesichts der global beschleunigten Verarmung und des Schwindens von "Besitz" einmal mehr auf ihr Avantgarde-Potenzial zu befragen wären.

Es kann nur Technik sein, die die Natur rettet

In Reynold Reynolds Zwei-Kanal-Video "Six Apartments" herrscht Entschleunigung: Radios und Fernseher künden vom Untergang der Natur. Gleichgültig, als spürten sie nichts, treiben sechs voneinander isolierte Nachbarn dem eigenen Verfall entgegen. Würden sie mal nach draußen gehen, könnte sie vielleicht die Arbeit der Gruppe "Hehe" aufrütteln, die Abgase mit Laserlicht sichtbar macht. Die grün strahlenden Ausdünstungen eines Kohlekraftwerks brachten die Bewohner Helsinkis im letzten Jahr tatsächlich dazu, ihren Verbrauch merklich zu reduzieren.

Seit ihrer Gründung als kleines Videofilmfest 1988 hatte die Transmediale mit ihrem Fokus auf multimediale Künste immer mit Skepsis zu kämpfen. Inzwischen dürfte niemand mehr die Notwendigkeit eines Kunstfestivals, das mit der Technik spielt, bezweifeln. Schließlich scheint es immer mehr die Technik zu sein, die den Menschen und sein Verhältnis zur Umwelt verändert. Es war die Technik, die das Verschwinden der Natur vorantrieb. Und es kann nur die Technik sein, die sie dann wieder rettet.

Auch der Sinn eines Parallel-Festivals für elektronische und experimentelle Musik erschließt sich dieses Jahr deutlicher. Wird in den popkulturellen Praktiken, im Improvisieren mit neuer Technik, in projektorientierter Zusammenarbeit rund um den Globus, nicht bereits erprobt, was sich auch für die Lösung politischer und ökologischer Probleme empfehlen könn te? Der tabufreie Umgang mit den Materialfluten der digitalen Archive, die Loslösung von den Ideologien und Verhaltensregeln der Subkulturen - wächst da nicht eine Geisteshaltung heran, die für eine globale Gesellschaft unerlässlich ist?

Strategien der Selbstermächtigung werden immer wichtiger

Eine Galionsfigur des globalen Kulturaustauschs ist DJ Mujava, eine Art Re-Import von 90er- Bleep House. Bekannt geworden über die Soundsysteme der Taxibusse im südafrikanischen Pretoria, fand sich der Kwai to-House -Track "Township Funk" plötzlich auf den Tanzflächen Europas wieder. Mujava spielt heute beim "Funk Mundial"- Abend im Festivalzentrum, der Maria am Ostbahnhof. Und am anderen Ende des Programmspektrums rangiert der 75-jährige Yasunao Tone, Mitbegründer der japanischen Fluxusbewegung. Am Montag führt er sein Werk "Paramedia Mix 08" auf, das mit dem Klang zerkratzter CDs spielt.

"Wir wollen das aktuelle Geschehen dokumentieren und die großen Entwicklungslinien aufzeigen", sagt Jan Rohlf. Ebenfalls in der Ausstellung zu sehen: Luci Links Video "Life is a bitch". Mit schriller Stimme verkündet ein Mädchenmund: "Habe heute 20 SMS und 100 E-Mails bekommen. Ich muss echt beliebt sein." Die Künstlerin ironisiert die oberflächlichen Seiten der virtuellen Kommunikation. Zum zehnjährigen Jubiläum leistet sich das Festival unter dem Motto "Structures" erstmals ein Tagungsprogramm, das sich im Kunstraum Kreuzberg dem "Blick hinter die Bühne" widmet, wie Rohlf es nennt.

Es geht vor allem um die Bedingungen musikalischer Produktion in kleinen Projekten und Netzwerken - in Zeiten einer "Krise der Musik, in der keiner weiß, wohin die Reise geht". Auch hier sind es die kleinen Akteure, die den Nährboden für Erneuerung bilden. Oliver Baurhenn, Organisator des Clubs, hebt hervor, dass Strategien der Selbstermächtigung immer wichtiger werden. "Wir wollen Formate präsentieren", sagt er, "die das Moment der Teilhabe betonen."

Kultur ist ein flüchtiges Gut

Ein anderes Thema ist der via Internet beschleunigte Austausch der ‚community', von dem vor allem elektronische Musik zehrt. Dass der Zusammenbruch des Musikmarkts die Bedeutung des Konzerts erhöht hat, gilt für die Elektro-Szene erst recht. "Experimentelle und elektronische Musik wird oft verständlich, wenn sie live gespielt wird", sagt Oliver Baurhenn.

Am runden Transmediale-Geburtstag macht sich auch die institutionelle Anerkennung der Clubkultur bemerkbar: Erstmals wird das Festival von der Bundeszentrale für politische Bildung gefördert. "Es entsteht langsam ein Bewusstsein dafür, dass das, worüber wir in Bezug auf Musik nachdenken, auch für Theater, Film und Kunst relevant ist", sagt Rohlf. Er kritisiert allerdings, dass die Unterstützung immer noch auf dem überkommenen Gegensatz zwischen Pop und autonomer Kunst beruhe. Gerade Berlin brauche zudem eine Förderung, die in Strukturen denkt und nicht in Projekten. "Sonst sind, sobald die Mieten steigen, die Künstler schnell wieder woanders." Auch kulturelles Klima braucht Schutz. In der globalen Gleichzeitigkeit ist Kultur ein so flüchtiges Gut wie Eis.

Kolja Reichert

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false