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Kultur: Trauer um den verlorenen Schmerz

Ausschweifung und Untergang: Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg / Von Wolf Jobst Siedler

Die großen Niederlagen gliedern die Geschichte in ähnlichem Maße wie die großen Siege, deren andere Seite sie oft, aber durchaus nicht immer sind. Tatsächlich sind es die Untergänge, die sich der Erinnerung der Nationen am tiefsten einprägen, und die verlorene Schlacht markiert die Epoche noch kräftiger als die siegreich zu Ende geführte. Dies mag damit zusammenhängen, dass Reiche an einem Tage zerbrechen können, aber nur in Jahrzehnten und Jahrhunderten zusammengefügt werden. Die Gründung von Imperien vollzieht sich niemals als Eklat, ihr Ausgang aber oft als Debakel, wie kennzeichnenderweise einer der großen politischen Romane, Zolas Epos über den Untergang des zweiten Kaiserreichs, heißt. Der Aufstieg Roms lässt sich in Daten schwer fassen; der Untergang Karthagos steht auf den Tag genau fest.

Zu den bewegenden Erfahrungen eines Umgangs mit den Dokumenten des deutschen Widerstands gehört der Einblick in den Schmerz, der die Handelnden des 20. Juli angesichts des heraufziehenden Verhängnisses erfasste. Wenn es nicht ihre Tat wäre, die ihnen eine so einzigartige Stellung zuweist, so wäre es die Leidensfähigkeit, die sie vor dem Schicksal des Landes beweisen. Zum letzten Mal gewinnen hier die romantisch- anachronistischen, weil ungesellschaftlich unpolitischen Vokabeln „Deutschland“ und „Vaterland“ Würde; sie tauchen in den Debatten der Verschwörer und in den Protokollen der Gefolterten immer wieder auf.

Während sich die herrschenden Mächte in den Besitz der Begriffe „Staat“ und „Volk“ gesetzt haben, treten unter dem Schatten der hereinbrechenden Katastrophe die ihrer Emotionalität wegen längst unaussprechbar gewordenen Worte „Nation“ und „Land“ noch einmal nach vorn: Auch dies ist es, was jenen Gestalten um Stauffenberg die Farbe des Jünglingshaften und Vergangenen gibt.

In den Monaten vor dem Sturz begreift die Masse ganz plötzlich und vorübergehenderweise, dass das Land auf etwas zutreibt, was die Geschichte Untergang nennt. Das Volk weiß es auf seine derbe Manier, die dumpfen Empfindungen stets im Zynismus Ausdruck gibt: „Nach dem Kriege kaufe ich mir ein Fahrrad und sehe mir Deutschland an. – Und was machst du nachmittags?“ Das deutlichste Gefühl und die schmerzlichste Empfindung, dass es auf anderes zuläuft als auf eine Kapitulation und eine Niederlage, aber haben vielleicht die nach draußen Geflüchteten und Verfolgten. Es ist dies ein Aspekt des Leidens, der an der deutschen Emigration meist übersehen wird, weil immer nur ihres Hotel- Schmerzes gedacht wird. Doch drängt er sich bei der Lektüre der Briefe und Schriften Reuters und Unruhs, Heinrich Manns und Brünings geradezu auf; das Zugrundegehen der Nation und das Verspieltwerden des Landes werden von Kalifornien aus schärfer empfunden als im Hotel Majestic in Paris.

Den von Ernst Jünger dort so deutlich gesehenen Zusammenhang zwischen den Schinderstätten des Regimes und dem Sturz des Reichs hat niemand so scharfsinnig interpretiert wie im selben Jahr 1944 Theodor Adorno im amerikanischen Exil: „Es drängt sich der Gedanke auf, das deutsche Grauen sei etwas wie vorweggenommene Rache. In den Konzentrationslagern und Gaskammern wird gleichsam der Untergang von Deutschland diskontiert. Während sie alles gewannen, wüteten sie schon als die, welche nichts zu verlieren haben.“

An der deutschen Entwicklung seit jenen Tagen des Sturzes in die Tiefe hat vieles die Welt überrascht. Die oberflächliche Verwunderung galt der wirtschaftlichen Wiedergeburt und das äußerliche Staunen dem lautlosen Verschwinden der Ideologie, die sich eben noch angeschickt hatte, die Welt zu unterwerfen. Die eigentliche Verblüffung hat dem leidenslosen Gleichmaß zu gelten, mit dem es sich dieses Volk im Untergang bequem gemacht hat. Die tiefste Bestürzung betrifft die Unempfindlichkeit des Landes für einen staatlichen Kollaps, wie ihn die neuere Geschichte nicht gesehen hat. Es macht dies die Bitterkeit aus, die den Beobachter angesichts der Opfer der Verschwörung erfasst: Nicht nur von ihrer Tat ist nichts geblieben, sondern auch die Anstrengung der Empfindung ist vergangen, aus der sie handelten. (...)

Der Untergang Deutschlands, die nationale Tragödie, das Ende des Reiches – das alles hat stattgefunden, trotz jener fünfundsiebzig Divisionen in der Weichselstellung und der zwanzig Verschwörer in der Bendlerstraße. Die Katastrophe ist von so verschiedenartigen Opfern nicht abgewendet worden, aber an ihrem Ende steht das Behagen. Der Wohlstand, der bei solcher Gelegenheit, seiner rhetorischen Ergiebigkeit wegen, meist ins Feld geführt wird, ist in diesem Zusammenhang durchaus unerheblich; eine Nation lässt sich nicht auf Armut festlegen, nur um ihre Trauer zu artikulieren. (...)

Nicht ihr Nationaleinkommen spricht gegen die Deutschen, sondern dass ihre betäubte Empfindungslosigkeit heute so würdelos ist wie gestern ihre nationale Ausschweifung. Tatsächlich ist die Unbeweglichkeit des Gemüts das eigentlich Beängstigende an der Epoche; hinter solchem Gleichmut können sich seltsame Dinge tun. Diese Gelassenheit, die mehr die Züge der Unbekümmertheit als die der Kälte zeigt, ist bisher nur an dem Verhalten gegenüber den Schrecken der gestrigen Lagerwelt beobachtet worden; unbeachtet blieb, dass sie auch die Stellung zum heutigen Geschick des Landes kennzeichnet. Was dort das Gesicht der Verdrängung trägt, gibt sich hier als eine Selbstvergessenheit zu erkennen, die von den Politikern beider Parteien vielleicht nicht ganz zutreffend als Mündigwerdung des Volkes begrüßt wird. Nicht nur die Robustheit erstaunt, die nach Auschwitz vom Unrecht an Deutschland zu sprechen wagt; auch das Selbstverständnis ist unbegreiflich, das sich nach Jalta und Potsdam als unter glücklicheren Umständen wiedergeborenes Weimar begreift. (...)

Alle Geschichte hat eine Vorliebe für das Tragische, und den Götterdämmerungen wendet das romantische Bedürfnis des Volkes sich mit sonderbarer Sehnsucht zu: Im brennenden Troja und in Etzels Palast hält sich die Phantasie der Sänger am liebsten auf. Ist es so, dass sie von den Kindstaufen in den renovierten Palästen nur nicht erzählen?

Deutschland hat sich, nach einer Phase der Benommenheit, wiedergefunden. Es ist, und dies unterscheidet das postfaschistische vom nachwilhelminischen Land, weit davon entfernt, seine Niederlage zu leugnen. (...) In verblüffendem Maße fixiert sich dieser zweiten Nachkriegszeit der hinter einem Schleier zurückgetretene Krieg in den erlittenen Vernichtungsschlachten und in den unverhinderten Frontdurchbrüchen; auf eine nach 1918 undenkbare Weise richtet sich das Denken der Überlebenden und Nachgeborenen auf die verlorenen Schlachten Stalingrad, Invasion, Oder-Stellung. Aber damals ist der 9. November 1918 zum Trauma geworden; was am 8. Mai 1945 geschah, weiß heute kaum einer zu sagen. Es ist noch viel weniger in das Bewusstsein getreten, dass jene erste Niederlage das Ende des Kaiserreichs brachte, diese zweite aber ein Ereignis, wie es Europa seit den polnischen Teilungen nicht gesehen hat. (...)

Zu den Winken, mit denen uns eine Zeit zu verstehen gibt, wie man es mit ihr zu halten hat, gehört auch das Vokabular, das sie verwendet, wenn sie von sich spricht. In diesem Zusammenhang ist die Vokabel Zusammenbruch aufschlussreich, die heute – und zwar von Bevölkerung und Geschichtsschreibung gleichermaßen – verwendet wird, wenn vom Jahre 1945 die Rede ist. Denn dieses Wort ist nicht nur entschiedener und endgültiger als die Vokabel Niederlage: Es verlegt den Vorgang aus der Ebene des Konflikts in die der eigenen Ohnmacht. (...)

Der Zusammenbruch trennt das Heute vom Gestern, und er begründet für die heute Lebenden jene Verantwortungslosigkeit für die Vergangenheit, die an der Haltung zu der Lagerwelt des Regimes ja ebenso auffällt wie an der Stellung zu dem abgetrennten Teil des Rumpfstaates und die natürlich nur eine so noch nicht vorgekommene Identitätsverweigerung ist.

Mit der Wendung vom „Zusammenbruch“ wird Distanz zur Geschichte hergestellt und damit Leidenslosigkeit vor der Katastrophe. Es ist ja nicht die Tragödie, die Katastrophe, der Untergang Deutschlands eingetreten, den sie alle von Adorno bis Witzleben in jenem gespenstischen Sommer 1944 hilflos hereinbrechen sahen; es kam nur der Zusammenbruch. Sarkasmus könnte die Formulierung finden, dies sei das Satyrspiel nach der Tragödie, auf das niemand gekommen wäre: Oktoberfest und Pauschalreise. (...)

Unter den Umdüsterungen des Volkes nennt die Meinungsbefragung das Schicksal des Landes an letzter Stelle. Vor solcher Unberührtheit vom Untergang einer Nation drängt sich das Wort vom Ende der nationalstaatlichen Ära auf, und wirklich scheinen nationale Schmerzen heute nicht mehr empfunden zu werden. Vieles deutet darauf hin, dass gerade die Jugend mit entschiedenerem Drängen der Einigung Europas als der Teilung Deutschlands zugewendet ist. In welchem Sinne wir das Zeitalter der Nationen verlassen haben, gibt sich auch darin zu erkennen, dass staatliche Katastrophen zu Recht vor Ereignissen zurücktreten, die nicht mehr die Völker, sondern den Menschen betreffen: Die tiefere Tragödie hat auch den tieferen Schmerz im Gefolge.

Tatsächlich verletzt die Sorge um verlorene Landstriche den Maßstab, wo Schrecken vor ganz anderem Grauen geboten ist. Das empfindlichere Bewusstsein scheut die Erinnerung an die Trecks der Flüchtlinge, weil mit ihnen auch die Waggons der Häftlinge aus dem Dunkel steigen; die größere Sensibilität nähert sich nur vorsichtig dem Gedächtnis an einen Osten, wo nicht nur die Namen der verlorenen Städte, sondern auch die der vergessenen Lager zu suchen sind. Dies macht die Fluchtberichte der Gräfin Dönhoff und des Grafen Lehndorf nobel, dass sie so ganz Abschied und so wenig Klage sind. Doch soll auch gesagt sein, dass der Verweis auf die eigene Schuld, womit Gleichgültigkeit sich ein moralisches Alibi für ihre Kälte zu sichern sucht, vor der Instanz des Leidens nicht zählt; der Schmerz vor dem Zustand des Landes und vor einer vertanen Geschichte wird nicht geringer, weil gestern oder vorgestern falsche Politik gemacht worden ist.

Und dennoch mag es sein, dass noch die Abneigung gegen die herrschende Unempfindlichkeit in der Sprachlosigkeit die Tugend des Tages erkennt. Es macht den vornehmen Konservativismus stumm, dass er von den Größenordnungen des Schmerzes weiß, und es macht ihn vornehm, dass er stumm ist. In diesem Sinne lässt sich sagen, dass die Gewaltherrschaft nicht nur die Provinzen verspielt hat, sondern auch die Trauer um sie.

Dieser Essay, den wir leicht gekürzt dokumentieren, erschien zuerst 1964 in der Tageszeitung „Die Welt“. Er ist nachzulesen in dem bei Siedler erscheinenden Band „Wider den Strich gedacht“ (19, 95 €), einem Querschnitt durch das essayistische Werk von Wolf Jobst Siedler.

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