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Bunt und vielschichtig. Der Islam kennt zahlreiche Ausrichtungen

© Caro / Aufschlager

Türken und Islam: Der Gott der anderen Leute

Die Türken waren im Laufe ihrer Geschichte Konfuzianer, Taoisten, Buddhisten, Juden und Schamanisten. Die türkische Schriftstellerin Sema Kaygusuz fragt sich vor diesem Hintergrund, welche Identität der Islam heute gerade bei den Türken hat.

Als ich Gott das erste Mal sah, war ich acht. Er war ein hochgewachsener, verwahrloster Mann. Er öffnete das Gartentor so selbstverständlich, als käme er nach Hause, stand im Hof, schaute mir in die Augen und sagte: „Ich habe Hunger!“ Ich lief zu meiner Großmutter und berichtete ihr, ein Bettler frage nach Essen. Aufgeregt setzte sie ihm ein Gastmahl vor.

Zwischen meiner Großmutter und dem Bettler schien eine geheimnisvolle Welt zu existieren, von der ich nichts ahnte. Tief in mir spürte ich, dass zwischen einem hungrigen Mann und einer Frau, die ihm freigiebig ein Gastmahl vorsetzt, ein moralisches Gesetz herrscht, vermochte das Erlebte aber nicht vollständig zu begreifen. Als der Bettler aufgegessen hatte, ging er aus dem Haus, wiederum so, als verließe er sein eigenes Heim. Kaum war er fort, bestürmte ich Großmutter mit Fragen. Mit zitternder Stimme erklärte sie mir, jener Mann sei Gott höchstpersönlich gewesen. So ein Wesen also war Gott. In Gestalt eines bedürftigen Menschen, dem man sich fürsorglich zuwendete, den man sättigte.

Der Gott meiner Großmutter war ein heiliger Mann, der aus der antiken Welt vor dem Übergang zum Monotheismus stammte. Sein Name war Hizir. Er war durch die Epochen gewandert, durch verschiedene Sprachen und Kulturen, hatte neben der Fähigkeit, für Fruchtbarkeit zu sorgen und die Seeleute zu beschützen, noch weitere Qualitäten wie Weisheit, Leidensfähigkeit, handwerkliches Geschick hier erworben, dort verloren und war schließlich als Bettler vor meine Großmutter hingetreten. Er war ein Spiegelbild, entstanden lange vor dem Islam und anderen monotheistischen Religionen, das zeigt, wie alt die Mythologien der menschlichen Zivilisationen sind und wie vital zugleich die latent gemeinsame Kultur auf Erden geblieben ist.

Als Bettler ähnelt Hizir, die dominierende Gottheit im Glauben der Aleviten von Dersim, Buddha mit der Bettelschale. Buddhas Bettelschale steht nicht nur stellvertretend für das Recht, die Gaben Gottes an seine Geschöpfe wieder in Umlauf zu bringen. Sie repräsentiert vielmehr die theologische Wurzel des buddhistischen Glaubens als Ausdruck der gegenseitigen Abhängigkeit der Geschöpfe untereinander. Das englische Wort beggar geht auf die Begarden zurück, einen Bettelorden, der im 13. Jahrhundert in Flandern aufkam. Dieser christlichen Glaubensgemeinschaft zufolge ist ein Mönch, der um Gaben bittet, jemand, der sich gegenseitiger Verbundenheit öffnet. Es geht ihm nicht um Zugewinn, sondern darum, seine Seele zu enthüllen.

In einer bitteren Zeit, da Religion in Massenkultur verwandelt und Faschismus in der Massenkultur Knospen treibt, gilt es, daran zu erinnern, dass die meisten religiösen Elemente gar keine spezifischen Merkmale aufweisen. Wenn wir nicht vergessen, dass alle Religionen auf der Welt einem gemeinsamen Reservoir entspringen, bewahren wir uns vor dem Irrtum, religiöse Zugehörigkeit als starre Identität festzuschreiben.

Für heterodoxe Auffassungen, fern der Hauptströmung einer Religion, ist ein gläubiger Mensch, wer die heiligen Werte aller Glaubensrichtungen vereint. Glauben und Religion sind mittlerweile zwei unterschiedliche Tendenzen. Spiritualität findet ihre Antwort in einem Universalität beinhaltenden Glauben, Religiosität dagegen in einer Identität. Betrachten wir die Völker aber aus einer historischen Perspektive, stellen wir fest, wie veränderlich religiöse Überzeugungen sind. Die Türken gründeten im Laufe ihrer Geschichte 17 Staaten und waren früher Konfuzianer oder Taoisten, ab dem 7. Jahrhundert auch Buddhisten, Manichäer oder feueranbetende Zarathustrier, unmittelbar vor dem Monotheismus auch Schamanisten oder Pantheisten, während des 400-jährigen Chasarenreichs waren sie Juden, einige ab dem 9. Jahrhundert zum Christentum konvertierte Gemeinden existieren noch heute als orthodoxe Christen. Offenbar gleicht Religion einem Fluss, der sein Bett den natürlichen Gegebenheiten anpasst und unaufhörlich weiterströmt. Sie ist keinem universalen Naturgesetz von ewiger Gültigkeit unterworfen.

Bei einem Blick aus der Gegenwart ist es fast unmöglich, von einer absoluten islamischen Kultur zu sprechen. In meiner Zeit in Berlin habe ich höchst unterschiedliche Lebensformen erlebt. Auch wenn die Aleviten aufgrund ihrer Herkunft aus einer egalitären Tradition integrationsfähiger scheinen als sunnitische Muslime, habe ich persönlich Frauen kennengelernt, die sich von extrem konservativen Familien emanzipierten.

Es gibt Glaubensgemeinschaften, die in kleinen Konventen auf Mietshausetagen soziale und wirtschaftliche Netze knüpfen, ebenso wie solche, die Moscheen zugleich als Sportzentren, Cafés oder Einrichtungen für Sozialberatung nutzen. Natürlich gibt es auch extremistische Gemeinschaften, die ihre Frauen unter das Kopftuch zwingen und den Islam als Dach einer Ideologie der Männerherrschaft betrachten. Aber es gibt auch Muslime, die ein Leben lang nicht in den Koran schauen und dahinleben, ohne um die Feinheiten der eigenen Religion zu wissen. Ich habe fromme, ihrer Religion völlig entfremdete Menschen getroffen, die sich bei Fragen des Alltagslebens an den Imam wenden und ihr Leben nach den starren Regeln von haram und helal, koscher und unkoscher, organisieren.

Die meisten Muslime aus der Türkei werden von strengeren Gemeinschaften als „Muslime light“ angesehen. Gemeinden, in denen die Selbstdefinition lautet: „Zuerst bin ich Muslim“, haben eine Verteidigungsrhetorik gegen die Argumente der nach dem 11. September entstandenen Islamphobie entwickelt. Die theologischen Studien dagegen, die Reformierer an diversen Instituten zur Neuinterpretation des Korans in thematischem und historischem Kontext betreiben, verdienen Bewunderung. Neben Aktivistinnen, die über Islam und Feminismus arbeiten, entsteht derzeit eine islamische Bewegung, die sich nach dem Motto „Handle für das Jenseits, als würdest du heute sterben, und für das Diesseits, als würdest du ewig leben“ zu einem fast protestantischen Verständnis wandelt. Dagegen hat sich auch eine Strömung entwickelt, die den Islam als Diskrepanz zur Weltlichkeit versteht und marxistische Züge trägt. Wie alle Religionen wandelt auch der Islam sich im Rahmen seiner Eigendynamiken. Die sich dem Islam gegenüber aufstauende Beunruhigung hat kaum eine andere Funktion, als bei Betrachtern wie Betrachteten eine Identitätskrise zu befeuern.

Sema Kaygusuz: "Die meisten Muslime aus der Türkei werden von strengeren Gemeinschaften als 'Muslime light' angesehen."
Sema Kaygusuz: "Die meisten Muslime aus der Türkei werden von strengeren Gemeinschaften als 'Muslime light' angesehen."

© Frankfurter Buchmesse/Enderlein

Um zu verstehen, wie das Phänomen der radikalislamischen Bewegung aus einem stark degenerierten religiösen Diskurs hervorging, ist kein Ausflug in die Theologie nötig, sondern ein Blick auf die internationale politische Geschichte. Die Sache nimmt ihren Ausgang, wenn wir dazu verurteilt sind, ein Massaker, eine Besetzung oder Ausbeutung irgendwo auf der Welt tatenlos mitanzusehen und an der Einschüchterung zu ersticken drohen. Einschüchterung ist die einfachste Methode der Propaganda. Angst als oberste emotionale Schicht formt unsere Vorurteile. Wie Wasserdampf breitet sie sich aus und nimmt in der Masse der Gesellschaft den Atem.

Den kulturellen Beitrag von Religion, nicht nur der des Islams, auf Philosophie und Zivilisation zu ignorieren und zu glauben, Religion verdumme die Menschen und vernichte die Zivilisation, mag zunächst wie leeres Geschwätz erscheinen. Treffen solche Worte aber auf die Ängste der Menschen, können sie zu einer mächtigen politischen Woge werden, der viele sich anschließen. Jede Anschauung, in deren Zentrum eine einzige Religion steht, degradiert Angehörige anderer Religionen notgedrungen zu Bürgern zweiter Klasse.

Der britische Historiker Arnold Joseph Toynbee meint, Zivilisation sei kein Hafen sondern eine Reise. Toynbee schlägt eine Geschichtsschreibung vor, die sich um das Verständnis von Kulturen bemüht, statt positive oder negative Werturteile über sie zu produzieren. In reinen Kategorien der Zugehörigkeit zu denken, verhindere objektives Denken. Seine eigene Zivilisation als einer fremden überlegen zu definieren, bedeutet, sich einem altbekannten Albtraum hinzugeben. Wenn monolithische Kulturen bei ihnen lebende Fremde zum Anlass nehmen, sich zu hinterfragen, fangen sie zwar an, diesen Fremden eine Bedeutung beizumessen, diese kann aber nur negativen Charakters sein.

Als eine Person, die das Leben aller Wesen auf Erden, ob Stein, Baum, Himmel, Vogel oder Meer, gleichermaßen schätzt und nichts heilig finden kann, um dessentwillen Blut vergossen wird, kann ich nur eine Erfahrung in Sachen Glauben anerkennen: Die unermessliche Tiefe im Empfinden des Mysteriums, das dem Menschen ein Gefühl unerschöpflichen Lebens schenkt. Diese Tiefe stellt sich ein, wenn man die Angehörigen anderer Religionen nicht als Masse wahrnimmt, sondern auf das Ich eines jeden Individuums neugierig ist. Sich auf diese Tiefe einzulassen, bedeutet auch, sich dem Ungewissen zu stellen. Die Tat meiner Großmutter ist also weder einer einzigen Religion zuzuordnen, noch hat sie etwas mit der Oberflächlichkeit unserer Zeit zu tun. Meine Großmutter schuf vielmehr ein Mysterium: Indem sie den Bettler an ihrer Tür als Gott behandelte.

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe

Sema Kaygusuz wurde 1972 im türkischen Samsun geboren. Sie studierte in Ankara und lebt heute als Schriftstellerin in Istanbul. Sie veröffentlichte mehrere Bände mit Erzählungen. Im Suhrkamp Verlag ist zuletzt ihr Debüt-Roman „Wein und Gold“ erschienen. Zurzeit ist sie Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD. Am Freitag, den 21. Januar, tritt sie um 19 Uhr im Rahmen des Abends „Deutschlands Muslime und europäischer Islam“ im Berliner Haus der Kulturen der Welt auf. Unter anderem diskutieren Hilal Sezgin, Cem Özdemir, Tariq Ramadan, Dan Diner und Gudrun Krämer. Der Abend wird von Tagesspiegel-Reporterin Caroline Fetscher moderiert.

Sema Kaygusuz

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