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Unwirklich unwirtlich. Felsformationen bei Kebili in Tunesien. Foto: akg-images / Gerard Degeorge

© akg-images / Gerard Degeorge

Tunesische Gefühle: Gruppenbild mit Kamelen

Zwischen Orient und Okzident: Jonas Lüschers wundersame Novelle „Frühling der Barbaren“ erzählt von einem Börsencrash des 21. Jahrhunderts - im Stil des 19. Jahrhunderts

Doch von den Kamelen erst später“: Ein Satz in altväterlichem Duktus, der ein Ereignis ankündigt, das sich entweder in exotischen Gefilden oder in einem Zoo abspielt. Er könnte aus einem der arabischen Abenteuerromane Karl Mays stammen oder aus Johann Wolfgang von Goethes „Novelle“, in der wilde Tiere bei einem Zirkusbrand ausbrechen. Doch geschrieben hat den Kamele verheißenden Satz Jonas Lüscher im Jahr 2013.

Der 36-jährige Schweizer hat seine wundersame Novelle „Frühling der Barbaren“ ganz nach alter Schule angelegt, mit einer Rahmenhandlung, die in der Psychiatrie spielt, und diversen geschickt geschürzten dramatischen Knoten. In Wahrheit werden sie jedoch weniger geschürzt als gesattelt, denn bei dem tunesischen Abenteuer, von dem der Psychiatrieinsasse und Schweizer Fabrikerbe Preising einem Mitpatienten im Rückblick erzählt, ereignet sich Unfall nach Unfall. Fast immer sind dabei Kamele im Spiel, teils als gesattelte Reittiere.

Schon auf dem Weg zu einem Luxus-Resort in der Oase Tschub wird der erklärte „Kulturrelativist“ Preising Zeuge eines grauenhaft-grotesken Zusammenstoßes zwischen einer Karawane und einem Touristenbus: „Eines der Tiere hatte sich buchstäblich um die eng stehenden doppelten Vorderachsen des Busses gewickelt. Der Hals, unnatürlich lang gedehnt, hing schlaff über dem heißen Gummi des mächtigen Reifens, die Zunge fiel zwischen den entblößten gelben Zähnen aus dem Maul, ein Bein ragte steif zwischen Rad und Karosserie in den Himmel, den schwieligen Fuß in einem spitzen Winkel abgeknickt.“

An solche Schachtelsätze voll überbordender Beschreibungslust muss man sich zunächst gewöhnen, zu lange schon sind sie in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur aus der Mode gekommen. Einzig in der Schweiz scheint ein Reservat zu bestehen, das sich dem allzu Einfachen und Windschnittigen widersetzt. Das äußert sich in „Frühling der Barbaren“ sowohl im Satzbau als auch in der Wortwahl. So bezeichnet der Autor beispielsweise die Spa-Anlage des „Thousand and One Night Resort“, das Preising ansteuert, als „Pièce de Résistance“, veraltet für „Hauptgericht“.

Einen solchen lukullisch-literarischen Genuss voller Widerhaken stellt auch die Novelle selbst dar. Offenbar hat Jonas Lüscher, der zur Zeit in Philosophie promoviert, Friedrich Schlegel wörtlich genommen. Dieser erklärte 1789 „märchenhafte Phantastik, ironische Leichtigkeit und überquellende Fülle“ zu den Stilmitteln der Arabeske.

Jonas Lüscher erfüllt dieses ästhetische Programm mustergültig, zugleich lässt seine Novelle, in der eine Revolution losbricht, den Arabischen Frühling erahnen. Von Karthagos Stadtheiliger Dido bis zu Roger Trinquier, dem gefürchteten französischen Kolonial-Feldherrn und Verfasser des Standardwerks „La guerre moderne“, ist auch die tunesische Geschichte reich und dennoch dezent vertreten. Und mit der Hotelmanagerin Saida, die seit der Hotelschule in Genf unglücklich in einen dortigen kommunistischen Stadtrat verliebt ist, setzt er der Tatkraft arabischer Frauen ein Denkmal. Saidas Passion, die ein ganzes Buch füllen könnte, verpackt der Novellist in einen einzigen langen, packenden Satz. Okzident prallt auf Orient, und das mit tragikomischen Folgen: Dieser Tenor durchzieht das höchst ungewöhnliche Buch.

Preising, der sich wie sein Mitpatient aus der Rahmenhandlung durch „unsere Unfähigkeit, uns als Handelnde zu verstehen“ definiert, ist als Frühstücksdirektor nach Tunis gereist, um einen Zulieferbetrieb zu besuchen. Dessen Chef besitzt mehrere Luxushotelanlagen und lädt den Schweizer zu einem Urlaub ein. Der Name Preising, ist man in der Firma für Telekommunikations-Zubehör überzeugt, klingt vertrauenswürdiger als der des Bosniers Prodanovic, des „entschlussfreudigen Leistungsträgers und Wertschöpfers“. Denn das ist das zweite Gegensatzpaar, das den Text strukturiert: Einer überdrehten, ganz auf den Geldkreislauf fixierten Gegenwart setzt Lüscher den kontemplativen Preising entgegen. Er trifft in der Heilanstalt wiederum auf einen Kommentator seiner Erlebnisse, nämlich den depressiven Mitpatienten.

Die kunstvolle, aber niemals künstliche Novelle arbeitet auf einen höchst aktuellen Wendepunkt zu: „Während Preising schlief, ging England unter.“ Der Autor schildert ein symptomatisches Ereignis des frühen 21. Jahrhunderts – einen Börsencrash – im Stil des 19. Jahrhunderts. Damit erzielt er einen erhellenden Verfremdungseffekt.

Protagonisten des entfesselten Kapitalismus sind einige junge britische Aktienhändler, die in dem tunesischen Resort eine Hochzeit feiern. Der allwissende Erzähler beobachtet, wie die Familien des wohlhabenden Bräutigams und der Mittelklasse-Braut sozial divergieren. Preising freundet sich mit der gelangweilten Mutter des Bräutigams an.

Deren Mann, ein drahtiger Soziologieprofessor, zwingt ihn, an einer Expedition teilzunehmen: „Preising ergriff also den speckigen Gürtel des Engländers, während dieser sich, auf dem Bauch liegend, gefährlich weit über den brüchigen Erdwall hinauswagte, und starrte zu gleichen Teilen fasziniert und indigniert auf den völlig haarlosen und erstaunlich weißen mageren Hintern, der sich Zentimeter um Zentimeter aus der Funktionshose schälte."

Es sind solche unterhaltsam-maliziösen Dramen in einem Satz, die dem Text seine besondere Würze geben. Zentimeterweise stellt Lüscher die westliche Zivilisation bloß. Zwar kann Preising den entblößten Professor vor dem Sturz in den Abgrund bewahren, in der Nacht darauf aber stürzt das britische Pfund ins Bodenlose. Die reichen Hotelgäste erleben in dem künstlichen Convenience-Arabien ihr persönliches Waterloo. Plötzlich insolvent, vergessen die Engländer jede Contenance und werden zu Raubtieren. Nur Preising, der neutrale Schweizer, bleibt ganz Gentleman – und vor allem Beobachter.

Ziel seiner Dissertation sei es, erklärte Jonas Lüscher in einem Interview, die Tauglichkeit von Narration für die Beschreibung komplexer sozialer Probleme zu beweisen. Mit seiner so fantasievollen wie analytischen Arabeske hat er seine These aufs Trefflichste bestätigt. „Frühling der Barbaren“ setzt die als altmodisch geltende Novelle in ihr Recht und ist ein sinnliches Abenteuer des Geistes.

Jonas Lüscher:

Frühling der Barbaren. Novelle. C.H. Beck

Verlag, München 2013. 125 Seiten, 14,95 €.

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