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Kultur: "Tuvalu": Sehnsucht nach der guten alten Welt: Veit Helmer lässt in seiner fantasievollen Hallenbad-Familiensaga den Stummfilm wiederaufleben

Die Möwe hängt am Maschendraht. Der Sturm auf hoher See, mit dem alles beginnt, wütet auf dem Dach des Hallenschwimmbads, zwischen Leinen voll niemals trocknender Wäsche.

Die Möwe hängt am Maschendraht. Der Sturm auf hoher See, mit dem alles beginnt, wütet auf dem Dach des Hallenschwimmbads, zwischen Leinen voll niemals trocknender Wäsche. Der Schornstein tutet und ist doch aus Pappe.

Das Bad ist alt. Sehr alt. Die Rohre rosten, die Duschen tröpfeln, von den Stuckdecken bröckelt faustdick der Putz, und der Bademeister ist blind. Die alte Dame, die mit Krücken und Gummireifen zum Schwimmen kommt, bezahlt mit einem Knopf. Lediglich die Dampfmaschine im Keller, die das Wasser ins Becken pumpt, rattert und glänzt wie neu. Der Stolz des Hauses: eine echte Imperial.

So geht das, in jenem fernen Reich, irgendwo zwischen Absurdistan und Balkanesien, wie Veit Helmer die Landschaft seines Filmtraums umschreibt. Dort sind die Uhren längst stehen geblieben, dort regnet es immer, und die Welt um das Schwimmbad herum ist wüst und leer. Tuvalu, das Eiland hinter den Fidschi-Inseln, liegt freilich noch weiter weg. Von Tuvalu träumen Veit Helmers Helden: Anton, der Sohn des Bademeisters und Eva, die Tochter des Kapitäns. Tuvalu, das ist der Traum im Traum.

Veit Helmer hat wenig Geld (Budget: 1,9 Millionen Mark) und viel Fantasie. Deshalb sehen seine Filme - sechs Kurzfilme bisher, darunter der preisgekrönte "Surprise" und nun dieser erste Langfilm - ein wenig wie geträumt aus, wie handgefertigte Entwürfe oder Modelle von Filmen. Das Kino: eine Schatzkiste aus der Bastlerwerkstatt. Alles garantiert improvisiert, simuliert, second hand. Nur das alte Gebäude ist original; es steht in Sofia und heißt Centralnja Banja.

Keine Badegäste in Sicht? Ein Tonband mit Endlosschleife liefert frei Haus die Geräusche einer fröhlich planschenden Schar, und der blinde Hausherr lächelt dazu. Das Dach leckt, und die Baupolizei kommt? Schon turnen ein Dutzend Obdachlose mit Schirmen im Regen auf den Schindeln herum. Keine Sonne zum Bräunen? Ein paar Scheinwerfer und ein Haufen Sand am Hallenbad-Beckenrand reichen, um das kurze Glück eines Strandlebens zu genießen. Die schöne Eva nimmt ihren Goldfisch mit ins Bassin und tanzt mit dem Fisch im Glas ein Unterwasserballett - Anton vergeht fast vor lauter erster Liebe.

Veit Helmers Kino ist kindlich. Mit Schwarzweiß-Bildern, eingefärbt nach allen Regeln der Kunst, als trage der Zuschauer Zauberbrillen: erst eine Blaubrille, dann eine Sepiabrille, eine mit Grünstich und noch eine, die alles goldgelb verklärt. Bevölkert sind diese Bilder mit Sonderlingen und Spinnern, mit Denis Lavant als Anton, jenem französischen Schauspieler mit dem ängstlich staunenden Blick, mit Chulpan Hamatova als Eva, deren Augen sich noch weiter runden, und mit Komödianten aus halb Europa in den skurrilen Nebenrollen. Sie alle sagen kaum etwas in der seltsamen Sprache dieses seltsamen Landes und gestikulieren dafür um so mehr. Wie damals im Stummfilm, nur dass die Tonspur zur Stummheit ein Konzert hinzufügt, eine wunderliche Musik aus den Geräuschen des Wassers, der Dampfmaschine und der klopfenden Rohre.

Nichts schöner als das! Die Fantasie ist Mangelware geworden im Filmschaffen von heute. Der 31-jährige Helmer hat sie mehr als genug, und doch fehlt etwas in "Tuvalu": eine Geschichte, die mindestens ebenso verrückt wäre wie all die Einfälle, mit denen der Filmemacher das baufällige Zentralbad in einen Hort der Kostbarkeiten verwandelt. Dagegen nimmt sich das Märchen von Anton und Eva ein wenig simpel aus, handelt es doch nur vom Kampf der Unschuld gegen den Rest der Welt. Draußen vor der Tür lauern die Bösen. Graue Herren in grauen Autos, die die letzten alten Häuser abreißen und auch das Bad schleifen wollen. Ja, sie versuchen sogar, das junge Paar zu entzweien. Aber Anton kramt seine Zwille hervor, organisiert die übrigen Träumer und bietet den Herren mir nichts dir nichts Paroli. Merke: Die alte Welt ist human, die neue barbarisch. Selbst "Momo" war differenzierter.

Es ist etwa so, wie wenn ein Koch eine raffinierte Gewürzmischung komponiert, aber das Fleisch dazu vergisst. Und so gehen all die aberwitzigen Einfälle Veit Helmers recht eigentlich baden. Auch wenn die Imperial, die Anton und Eva zur Flucht verhilft, wohl noch lange pumpen wird. Wer weiß, vielleicht kommt auch Veit Helmer eines Tages im Land seiner Filmträume an. Das nötige Reisegepäck hat er.

"Tuvalu" läuft in Berlin in den Kinos Delphi und International

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