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Odysseus, ewig auf der Flucht. Die Sirenen wollen ihn in den Tod locken mit ihrem Gesang. Gemälde von John William Waterhouse, 1891.

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Über die Chancen der Literatur im Angesicht der Flüchtlingskrise: Europas Herz, Europas Helden

In der Literatur offenbart sich das Fremde - und das individuelle Leben. Die griechische Schriftstellerin Amanda Michalopoulou plädiert in einer Rede für eine Bildung des Gefühls.

Es waren einmal ein Grieche, ein Engländer, ein Deutscher und ein Spanier. Sie beschlossen, jeweils eine Geschichte zu schreiben, die die menschliche Situation möglichst treffend erklären sollte. Der Grieche sagte, ich schreibe über einen Helden, der nach dem Krieg eine gefahrenvolle Schiffsreise erlebt und schließlich bei seiner Heimkehr von niemandem wiedererkannt wird, nicht einmal von der eigenen Frau. Der Engländer sagte, ich schreibe über einen jungen unentschlossenen Prinzen, der sich fragt, ob es sich zu leben lohnt. Der Spanier sagte, ich schreibe über einen märchensüchtigen Landmann, der ein Ritter zu sein meint und mit seinem knochigen Klepper zu einer Reihe absurder Abenteuer aufbricht. Der Deutsche sagte, ich schreibe über einen jungen Mann, der sich leidenschaftlich in die Frau eines anderen verliebt und schließlich vor Liebe stirbt.

Ungefähr so hat Homer das Epos geschaffen, Shakespeare das Drama, Cervantes den Roman und Goethe den Grundstein für die Romantik gelegt. Es könnte ein Witz sein, ist aber eine Geschichte der europäischen Literatur. Und eigenartigerweise sind diese Helden, auf denen jede moderne oder postmoderne Erzählung fußt, in Wirklichkeit selbst zutiefst modern: Außenseiter und Antihelden. Heute sind sie anerkannt, wir begegnen ihnen im Licht ihrer Berühmtheit, ihrer Interpretationen, ihrer Verwandlungen. Aber welches Bild vermittelt die Literatur über die Sinnsuche und die Visionen der Europäer und ihrer Vorfahren?

Literatur integriert die Anderen in den sozialen Körper

Nehmen wir Odysseus. Bevor er nach Ithaka kommt, wird er nackt und verzweifelt an der Insel der Phäaken angespült. Er ähnelt den heutigen Flüchtlingen, die seit Monaten vor den griechischen Küsten in Seenot geraten. In den Augen von Nausikaa und ihrer Begleiter wirkt er erschreckend, „denn es drängte die Not ihn“, wie der Dichter sagt. Not – welch prophetisches Wort! Und wie modern klingt es im Zusammenhang mit dem Flüchtlingsproblem. Selbst der sagenhafte Odysseus wird erst wieder zum Helden, nachdem er sich gewaschen und saubere Kleidung angezogen hat.

Auch Hamlet wirkt in den Augen von Claudius und Gertrude unberechenbar. Nach Meinung der Dorfbewohner ist Don Quixote verrückt: Als sie ihn fragen, warum er in Friedenszeiten bewaffnet herumläuft, stellt er sich als fahrender Ritter vor, als Botschafter Gottes auf Erden. Und Goethes Werther, vor Liebe verrückt, schickt seinen Diener in Lottes Haus, „nur um einen Menschen um mich zu haben, der ihr heut nahe gekommen wäre“.

Die übrigen Charaktere dieser Bücher, die den exemplarischen Helden begegnen, betrachten sie als absurd, gefährlich oder als Tölpel. Sie denken, wie man es uns zu denken beigebracht hat, wenn uns etwas Übertriebenes oder Fremdes entgegentritt: Odysseus ist ein schmutziger Schiffbrüchiger. Hamlet sieht Gespenster. Don Quixote schwebt über den Wolken. Und Werther wird von einer krankhaften Leidenschaft beherrscht.

Die Literatur schafft es, den Anderen mit all seinen Eigentümlichkeiten und Eigenheiten in den sozialen Körper zu integrieren. Sie lässt den Unterschied zu, ernennt ihn sogar häufig zur Intelligenz. Sie betrachtet ihn als ein Zeichen von Mut: Der Held ist derjenige, der existieren will. Der für seine Freiheit, seine Ideen, seine Ästhetik kämpft.

Literatur als revolutionäre Bildung

Die Fiktion lehrt uns, auf kreative Weise über die Unterschiedlichkeit nachzudenken, wie es uns eine Schule niemals beigebracht hat, vielleicht nicht einmal eine Universität. Die anthropologischen Studien, die Psychoanalyse und Soziologie stellen theoretisch dar, was der Roman durch Beispiel und Identifikation sichtbar macht. Ein radikalerer Weg der Einsicht für Herz und Verstand ist kaum vorstellbar. Schuld, Eifersucht, Ehrgeiz, Unsicherheit, Langeweile, Liebe, Naivität, Hoffnung und Verzweiflung, Gewalt, Besorgnis, Absurdität, Todesangst – der Literatur ist nichts Menschliches fremd. Je mehr die Bildung durch das Fehlen einer Vision und der finanziellen Mittel herunterkommt, desto mehr entwickelt sich die in Europa entstandene Literatur zur einzigen wirklich revolutionären Bildung, die uns in einer Zeit von Angst, reduzierter Selbsterkenntnis und Solidarität und der Entwicklung von Nationalismen noch geblieben ist.

Die Bildungsdimension der Literatur ist völlig anders als das, was einem in der Schule vermittelt wurde: Findet die adjektivischen Bestimmungen und teilt den Text in Kapitel ein. Wenn man sich in die emblematischen Werke der europäischen Tradition vertieft, gewinnt man eine radikale Einsicht in den Anderen. Man akzeptiert unbewusst, dass der Andere stets ein Mysterium ist und dass die einfachen Charaktere nirgendwohin führen. War Odysseus einfach nur ein Schiffbrüchiger? Was erfahren wir wirklich durch sein Erscheinen auf der Insel der Phäaken über die wirklichen Schiffbrüchigen, die täglich an den Küsten Europas angespült werden?

Die Augen sehen lassen

Wenn wir den Umgang mit dem Flüchtlingsproblem den Massenmedien überlassen, wenn wir die Schiffbrüchigen in der Literatur vergessen, bleiben wir in die Stereotypen eingezwängt, nach denen Flüchtlinge ein homogenisierter Menschenbrei sind, der kommt, um den Westen zu peinigen. Die Literatur verwandelt den Brei der Nachrichtenagenturen, den organisierten Schrecken und das organisierte Mitleid in Individuen. Sie sagt: Der Andere ist nicht, was er zu sein scheint.

In Athen haben wir einen Nachbarn, den ich seit meiner Kindheit kenne. Er lebt mit seiner Frau in einem kleinen Haus und bestellt seinen Garten. Ich weiß, dass er nicht in die Schule gegangen ist, und ich habe ihn seit Jahrzehnten mit großer Leichtfertigkeit in die Kategorie eines bäuerlichen Rentners eingeordnet. Als ich neulich vorbeikam, bot er mir eine Traube von seinen Weinstöcken an, und wir kamen ins Gespräch.

Er begann mir begeistert die philosophischen Bücher aufzuzählen, die er gelesen hatte. Er erinnerte mich an Antonio Porchia, den weisen Schreiner aus Kalabrien, der eines der packendsten und bemerkenswertesten Bücher europäischer Denksprüche verfasst hat: „Stimmen“. „Geh nicht den Augen voraus“, schreibt Porchia in seinem einzigen Buch, „lass deine Augen sehen.“

Und während ich Porchia im Kopf hatte und unserem Nachbarn Nikitas zuhörte, dachte ich, dass ich ebenfalls meinen Augen vorausgehe, wie wir alle: Ein menschliches Wort kann einen Augenblick lang den schrecklichen Nebel von Gleichgültigkeit und Sicherheit in uns vertreiben. „Obwohl ich nicht alles verstehe, was ich lese“, sagte Nikitas wörtlich zu mir, „lese ich weiter, weil sich etwas in mir verändert.“

Literatur ermöglicht eine Erweiterung des Erfahrungshorizonts

In mir verändert sich etwas. Den Satz behielt ich, weil er den Umwandlungs- und Belebungsprozess der Bildung beschreibt. Stellen wir uns die europäische Literatur wie eine riesige Schule vor, in deren Lehrräumen und Bibliotheken nichts als Fragen gelehrt werden: Was heißt gutes Leben? Warum verletzen wir die, die wir lieben? Was kann einer aus extremem Ehrgeiz oder aus Furcht tun? Wie begegnet man der Armut, der Verzweiflung, den Fluchttendenzen?

Wenn man einen Roman liest, wird man in andere Körper versetzt und atmet mit deren Lungen. Vom Lesen absorbiert denkt man kaum darüber nach, was für ein fantastischer Vorgang das ist – dass ein fremdes Leben allein durch die Kraft des Wollens und Glaubens im Text völlig zum eigenen wird. Literatur ermöglicht eine Erweiterung des Erfahrungshorizonts. Wie viele Abenteuer und Schicksalswenden kann man selbst in einem einzigen Leben erleben? Beim Lesen hat man eine ganze Galerie von Leiden und Versuchungen vor sich, von Idyllen, Dementis, Wiedergeburten, Tod.

„Anstelle des Todes war das Licht“, schreibt Tolstoi, als Iwan Iljitsch stirbt. „Das ist es also! Welche Wonne!“ Sein Held entwickelt sich am Ende seines Lebens zu einem epikureischen Philosophen. Von Epikur und Heidegger haben wir Wissen erlangt, aber bei Tolstoi kann man es auch empfinden. Wir meinen, wir hätten von Camus, von Virginia Wolfe und von Kafka gelernt, was wir über Verzweiflung und Selbstzerstörung wissen. Was sich in Wahrheit verändert hat, war nur der Stil, nicht die Thematik.

Lernen, über den existentiellen Witz zu lachen

In der Schule haben wir Addieren und Subtrahieren gelernt, haben Gedichte auswendig gelernt, die Namen bedeutender Schriftsteller, Heerführer, die Jahreszahlen von Schlachten, aber wir haben nicht gelernt, über den existenziellen Witz zu lachen. Wir haben uns mit der Schlussfolgerung begnügt, dass das Leben etwas ist, was man durch Leben und Leiden lernt.

Aber das Leben, das sind die Erfahrungen aller, das Universum der menschlichen Erfahrung. In diesem Sinn haben wir schon in allen Kriegen gekämpft, sind ins Exil geschickt worden und haben geliebt, gestohlen, gefeiert und gelitten, haben getötet und sind getötet worden und wieder auferstanden: Die Literatur spiegelt die Abenteuer wieder, die in uns schlummern. Sie erschüttert uns heftig und holt alles wieder ans Licht, von dem wir dachten, wir wüssten es nicht, während wir es in uns getragen hatten, als wir teilnahmslos die Wolken draußen an einem Klassenzimmer vorbeiziehen sahen.

Amanda Michalopoulou, geb. 1966, lebt als Schriftstellerin in Athen. Sie schrieb bislang sieben Romane, Erzählungen und Kinderbücher. Ihr Text basiert auf einer Rede, die sie kürzlich auf dem Internationalen Literaturfestival in Odessa gehalten hat. Aus dem Griechischen von Birgit Hildebrand.

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