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Kultur: Über die einst so mächtige Staatssicherheit in der Endzeit der DDR

Die Herbstrevolution 1989 kennt eine Reihe historischer Schlüsseldaten, die jedes für sich einen weiteren Schritt auf dem Wege zum Untergang der DDR markieren. Eins davon ist der 4.

Die Herbstrevolution 1989 kennt eine Reihe historischer Schlüsseldaten, die jedes für sich einen weiteren Schritt auf dem Wege zum Untergang der DDR markieren. Eins davon ist der 4. Dezember in Erfurt - der Tag, an dem morgens gegen 9 Uhr mutige Bürgerinnen und Bürger ohne Gewalt in das Bezirksamt für Nationale Sicherheit eindrangen (vormals Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit), um die hier eingeleitete Aktenvernichtung zu stoppen. Die MfSler wehrten sich nicht, die Volkspolizisten blieben untätig. Eine weitere Zwingburg des alten Regimes war gefallen. "Insgesamt waren etwa 300 Personen in das BAfNS eingedrungen, besichtigten die Räumlichkeiten und richteten an kritischen Punkten Bürgerwachen ein", schreibt Walter Süß in seinem voluminösen Buch über den Niedergang des MfS. "Damit war das Eis gebrochen."

Erfurt, 4. Dezember 1989

Der 4. Dezember in Erfurt geriet zu einem Schlüsseldatum, weil sich die Nachricht von dem Geschehen "wie ein Lauffeuer durch die Republik" verbreitete. Am frühen Abend waren auch die Bezirkszentralen in Gera, Leipzig, Rostock und Suhl sowie anderthalb Dutzend Kreisämter für Nationale Sicherheit von Bürgerkomitees in "Sicherheitspartnerschaft" mit der Volkspolizei besetzt, die Aktenbestände gesichert und von der Staatsanwaltschaft versiegelt worden. Tags darauf geschah dasselbe in Cottbus, Dresden, Magdebug und Potsdam sowie in etwa 40 Kreisstädten. Angesichts der republikweit demonstrierenden und rebellierenden Massen kapitulierten die Kader. Die einst mächtige Geheimpolizei der SED war zur Ohnmacht verdammt.

Was sich in Erfurt ereignet hatte - Süß arbeitet das überzeugend heraus - war Ausdruck eines politischen und moralischen Zersetzungsprozesses im MfS, den die SED mit ihrer Führungskrise selbst verursacht hatte. Die revolutionäre Unruhe der Massen und die politische Lähmung der Herrschenden wirkten bis hinein in den Apparat der Staatssicherheit, der besonders sensibel reagierte, und sie trugen unter seinen hauptamtlichen und inoffiziellen Mitarbeitern zum Verfall von Kadavergehorsam und ideologischer Verblendung bei.

Wende von unten

Die zwölf Kapitel seiner Monographie leitet der 52jährige promovierte Politologe und Fachbereichsleiter in der Forschungsabteilung der Gauck-Behörde mit einer Betrachtung über das alte Regime in Erwartung der Krise ein. Daran schließt sich eine Untersuchung zur Polarisierung von Parteistaat und Gesellschaft in der DDR 1988/89 an. Danach analysiert Süß die "Aktion Jubiläum 40", den letzten Versuch der Staatssicherheit, im Oktober 1989 mit Repressionen die SED-Herrschaft zu stabilisieren. Dresden, Berlin und Leipzig lauten die Stichwörter. Vergeblich. Längst war die "Wende von unten" eingetreten. "Rückzugsmanöver und veränderte Repressionstaktik" der Staatssicherheit waren die Folge.

Die Würfel in Berlin waren gefallen mit der Kraftprobe während der Demonstration der 500 000 am 4. November auf dem Alexanderplatz. Weil auf den Einsatz von Gewalt verzichtet wurde, keimte bei den Herrschenden die Bereitschaft zum Dialog. Selbst Erich Mielke wollte kein zusätzliches Öl ins Feuer gießen. Der "Entgrenzung" und dem "Staatszerfall" war kein Einhalt mehr zu gebieten.

Im Kapitel "Vom MfS zum AfNS" skizziert Süß Hans Modrows Bemühen, die Macht der Staatssicherheit so weit wie möglich zu bewahren. Alles kam zu spät. "Konfrontation und Kapitulation in den Regionen" waren ebenso wenig aufzuhalten wie "Das Ende des AfNS". Mit dem Übergang zu demokratischen Herrschaftsstrukturen in der DDR war die Auflösung der Stasi unausweichlich geworden. Den Schlusspunkt setzte die Besetzung der Stasi-Zentrale im Berliner Bezirk Lichtenberg am 15. Januar 1990.

Die schweigende Mehrheit

Eine wichtige Erkenntnis: Dem MfS, das Süß als "Parteigeheimpolizei und als militärbürokratischen Organisationstypus" definiert, fehlte es auch im Herbst 1989 nicht an Information. In seinem Buch breitet er nicht zuletzt vielsagendes Material über den Umgang des MfS mit der Opposition aus. Selbst die Mobilisierung und Radikalisierung der "schweigenden Mehrheit" durch die Bürgerrechtler hatte die Stasi kommen sehen, aber sie war außerstande, sie zu verhindern.

Wer sich gründlich mit dem Zusammenbruch des MfS auseinandersetzen will, kann auf dieses Buch nicht verzichten. Indes thematisiert es weit mehr als die Endzeit der Staatssicherheit. Der Autor leistet einen wesentlichen Beitrag zur Geschichte der Implosion des DDR-Sozialismus.Walter Süß: Staatssicherheit am Ende. Warum es den Mächtigen nicht gelang, 1989 eine Revolution zu verhindern (Wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen. Bd. 15). Christoph Links Verlag, Berlin 1999. 816 Seiten. 58 DM.

Karl Wilhelm Fricke

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