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Kultur: Über Mäuse zum Liebhaben, Regen-Träume und die Aktion "Laibliches Wohl"

Vor dem Regal mit den kleinen Stoffmäusen stand ein Mädchen und blickte sich ängstlich um. Sie hob verschiedene Mäuse an und streichelte über ihr braunes Fell, dann hielt sie sich eine Maus ganz dicht vor die Augen, als sei sie kurzsichtig, sie drückte ihre spitze Nase in den Bauch der Maus, legte sie wieder hin und sah erneut in meine Richtung.

Vor dem Regal mit den kleinen Stoffmäusen stand ein Mädchen und blickte sich ängstlich um. Sie hob verschiedene Mäuse an und streichelte über ihr braunes Fell, dann hielt sie sich eine Maus ganz dicht vor die Augen, als sei sie kurzsichtig, sie drückte ihre spitze Nase in den Bauch der Maus, legte sie wieder hin und sah erneut in meine Richtung. Von draußen kamen Menschen mit Taschen und Rucksäcken herein, klappten ihre Regenschirme zu. Unter dem Mädchen hatte sich ein kleiner See gebildet, die langen Haare klebten auf ihrem Anorak und vom Anorak tropfte es nur so auf den Boden.

Ich wandte mich ab und blätterte in einer Illustrierten. Kurz darauf sah ich, wie das Mädchen mit schnellen Schritten in Richtung Ausgang lief, beide Hände steckten in den Jackentaschen. Ich folgte ihr, mit meinen langen Beinen war ich ohnehin schneller als sie. Kaum hatte die Kleine den Ausgang erreicht, rannte sie in Richtung Gedächtniskirche los, ich hinterher. Auf dem Gehsteig waren überall tiefe Pfützen entstanden, und das Wasser spritzte die Hosen hinauf bis zu meinen Schenkeln. Es roch nach Glühwein und gebranntem Zucker. Ein Leierkasten jaulte und alle paar Meter stieß ich mit den Taschen und Schultern eines Passanten zusammen. Gerade als sich die Kleine im Lauf zu mir umdrehte - sie musste mich gehört oder aber geahnt haben, dass ihr jemand folgte - holte ich aus und meine Hand packte ihre kleine Schulter. Das Mädchen schrie auf und zuckte zusammen. Sie machte eine Verrenkung, als knicke sie unter den Druck meiner Hand zusammen oder wolle sich losreißen.

In platzenden Tropfen fiel der Regen auf ihre längst nassen Haare. Sie starrte mich an: Was ist? schrie sie. Das Wasser rann ihr übers Gesicht. Zeig mal, was du da in der Tasche hast, sagte ich und schluckte, weil ich mir blöd vorkam und ein Lachen unterdrücken musste. Sie hielt ihre Hände fest in den Taschen und kniff die Augen zusammen. Mir fiel die Plastikkarte ein, die mir die Abteilungschefin heute morgen überreicht hatte. Ich suchte in der Innentasche meines Mantels, und dann in beiden äußeren Taschen. Schließlich wollte ich die Hosentaschen prüfen, aber dort, wo ich sie vermutete, spannte der Stoff glatt über dem Hintern und auch vorne fand ich keine Taschen. Mir wurde heiß. Ich hätte dem Mädchen gerne die Plastikkarte gezeigt. Die Drehorgel wurde immer aufdringlicher - ich blickte mich um, aber weit und breit konnte ich keine Drehorgel entdecken - das Leiern schmerzte in meinen Ohren. Aufmerksam sah mich die Kleine an. Na komm, schrie ich, und versuchte, ihren Arm aus der Tasche zu zerren. Das Mädchen schüttelte heftig mit dem Kopf und verzerrte den Mund, so dass mir der Gedanke kam, sie könne weinen.

Ich bin für diesen Job nicht gemacht

Der Regen hatte sie völlig durchnässt und die Drehorgel spielte so laut, dass ich ihr Schluchzen nicht hätte hören können. Ich hockte mich vor sie und packte sie an beiden Schultern, bis sie die schwarzen Augen aufriss und mich anstarrte. Was wollen Sie? flüsterte sie mit heiserer Stimme. Deine Taschen, ich möchte deine Taschen sehen. Sie schüttelte den Kopf und rührte ihre Hände nicht. Ich war mir jetzt sicher, dass sie weinte und ließ sie los. Doch die Kleine blieb wie angewurzelt stehen und sah mich unverwandt an. Wartete sie auf eine Erklärung, wollte sie eine Entschuldigung? Ich stand auf, drehte mich um und machte, dass ich wieder zurück in mein Kaufhaus kam.

Zum zehnten Mal knisterte dieselbe Instrumentalversion von Ihr Kinderlein Kommet durch die Lautsprecher. Hier, die hat ein Kunde auf dem Boden gefunden. Die Verkäuferin vom Uhrenstand reichte mir mit einem Lächeln meinen Plastikausweis über den Tresen. Schön aufpassen, riet sie mir, als ich die Karte einsteckte. Ich zwängte mich an dem Regal mit den Mäusen vorbei, um zwischen all den großen Geschenkpaketen einen Blick aus dem Schaufenster zu werfen. Gleich neben der Lebkuchenbude stand die Kleine auf ihrem Platz und beobachtete den Eingang des Kaufhauses. Ich ging an dem Regal mit den Mäusen vorbei und griff eine heraus. Auf dem Etikett stand in goldener Schrift: Mäuse zum Liebhaben.

Ich legte sie wieder zurück. Anstatt Anzeige zu erstatten, machte ich mir Gedanken, ob sich das Mädchen eine Erkältung holen würde, wenn sie noch länger da draußen im Regen stünde. Ich hatte mir mehr zugetraut. Ohne die Provisionen reichte mein Lohn gerade für den Fahrschein und mittags ein paar extra lange Wiener. Am Abend gab ich meiner Abteilungschefin die Plastikkarte zurück. Es tut mir sehr leid, aber ich glaube, ich bin für diesen Job nicht gemacht, wollte ich ihr sagen, sagte es aber nicht.

Am nächsten Morgen saß ich ab sieben Uhr im Wartezimmer des Arbeitsamtes. 28 Weihnachtsmänner! rief die Dame am Schalter, ausnahmsweise darf ich Frauen einsetzen. Ich drängelte mich gleich in die Schlange. Zusammen mit einer großen kräftigen Frau wurde ich für die Aktion "Laibliches Wohl" auf dem Weihnachtsmarkt am Alex eingeteilt. Ich bin die Heidi, sagte sie und reichte mir ihre Hand. In unseren Säcken befanden sich jeweils zweihundert Beutelchen, in denen winzige eingeschweißte Brotlaibe steckten. An der Unterseite der Brotlaibe klebte eine Aufforderung zum Spenden.

Ich bin so froh, erklärte Heidi, endlich mal was Gutes. Dabei rutschte ihr Bart wieder ab. Ich half ihr mit dem Klettverschluss. Wir standen vor der großen Krippe und traten von einem Fuß auf den anderen, damit die Schuhe nicht am Boden festfroren. Nur noch vier Tage, seufzte Heidi, Gott sei Dank habe ich schon alle Geschenke gekauft. Der Geruch nach gebranntem Zucker löste bei mir Übelkeit aus. Heidi fragte, welche Erfahrungen ich mit Gott hätte. Aber ich hatte keine und legte auch keinen Wert darauf, welche zu machen. Sie habe sechs Kinder, stöhnte Heidi, zwei davon seien fast gestorben, da müsse sie Gott wirklich danken, und schließlich, sie zeigte auf ihren Bauch, der unter dem weichen roten Mantel kaum noch auffiel, gebe es da noch eines, und auch das könne Gott bestimmt brauchen.

Wann ist es denn soweit?, fragte ich. Heute, Heidi lachte, heute sollte der Termin sein, aber ich habe da ein ganz klares Gefühl, das braucht noch. Ich nickte, und wir schwiegen, bis Heidi fragte: Und, was machst du Weihnachten? Ich zuckte mit den Schultern, überlegte, was ich ihr erzählen könnte, damit sie sich ihrer weihnachtlichen Liebe nicht schämen müsse und ich ihr nicht arm erscheinen würde. Ich mochte es, an Weihnachtsabenden allein durch die Straßen zu spazieren und in die Fenster zu schauen, hinter denen ich Bescherungen und Essen und Besuche vermutete. Ich fühlte mich an Weihnachten weder arm noch einsam, im Gegenteil, die rege Liebe ringsumher stimmte mich seltsam satt und zufrieden. Da musst du aber lang überlegen, bemerkte Heidi. Ich weiß nicht, sagte ich. Du weißt nicht? Heidi war erschrockener, als ich gedacht hätte. Ach, wie traurig.

Sie sah mich voller Mitgefühl an. Nein, widersprach ich, merkte aber, dass ich sie nicht überzeugen konnte. Der Glaube ist in diesen Fragen doch stärker als das Wort. Ich bemühte mich um einen besonders heiteren und glücklichen Gesichtsausdruck. Dabei werde ich gequält ausgesehen haben. Bis zum Feierabend beobachtete mich Heidi scheel von der Seite. Als ich am nächsten Morgen bei der Krippe ankam, erwartete Heidi mich bereits. Sie hielt in jeder Hand einen Plastikbecher mit dampfendem Kaffee. Guten Morgen, sie reichte mir einen Becher. Ich dankte ihr und sie sprudelte los. Weißt du, ich habe gestern abend gleich mit meinem Mann gesprochen, na, das ist ein ganz lieber, auf jeden Fall haben wir uns überlegt, dass wir uns sehr freuen würden, wenn du Heiligabend zu uns kommen würdest. Einfach so? Na klar! Heidis Stimme kiekste vor Aufregung. Wie nett, sagte ich. Heidi kannte mich zuwenig, um darin meine Zweifel an ihrem Vorschlag zu hören.

Wo bist du zu Hause, Weihnachtsmann?

Heidi nickte, sie hielt mir eine Schachtel rote Gaulouises entgegen. Danke, ich nahm ihr eine ab. Sie zündete mir die Zigarette an und ich spürte die Wärme ihrer Hände, die meine umhüllten, damit die Flamme nicht ausging. Der Rauch brannte in der Lunge. Eure Kinder würden sich bestimmt wundern, gab ich zu bedenken. Ach was, wir hatten schon manches Jahr einen Menschen aus der Gemeinde oder vom Feierabendheim da. Wir helfen nicht nur Christen. Das ist gut, ich meine, das freut mich. Ja. Heidi zog an ihrer Zigarette. Nur Leichte, sagte sie, und deutete mit der Zigarette auf ihren Bauch, ich kann nach sovielen Jahren nicht mehr aufhören. Ich nickte. Vielleicht komme ich als Weihnachtsmann, schlug ich vor. Das würdest du machen? Heidi war glücklich.

Als ich drei Tage später in dem roten Mantel durch die kleine, stille Straße in Rahnsdorf stiefelte und das Haus suchte, war ich froh über meinen Einfall mit der Verkleidung. Den Sack fand ich wie vereinbart in der offenen Garage. Ich klingelte, hörte Kinder schreien und dann wurde die Tür aufgerissen. Die Kinder wichen zurück und stolperten sich gegenseitig über die Füße. Die Maske war so verrutscht, dass ich kaum sah, wo ich hintrat. Der Schweiß rann mir über die Wangen. Mit verstellter Stimme bat ich die Kinder, mir den Weg in ihre Stube zu zeigen. Kleine Hände griffen nach meinem Ärmel und führten mich durch den Flur. Ich sollte mich in Papas Sessel setzen. Unauffällig versuchte ich, mir die Maske zurechtzurücken, damit ich durch die kleinen Schlitze in die Weihnachtsstube schauen konnte. Für die Kinder war es ganz natürlich, dass ich ihre Namen nicht kannte und nicht wusste, wie sie aussahen.

Ich stellte meine Fragen und sie sagten ihre Gedichte auf. Nachdem ich alle Geschenke vergeben hatte, trat ein kleines Mädchen auf mich zu und hielt mir ein Päckchen entgegen. Bitteschön, lieber Weihnachtsmann, sagte sie, das war für das neue Baby, aber es ist ja noch nicht gekommen. Dafür bist du gekommen, und du musst ja auch mal ein Geschenk kriegen, oder? Du freust dich doch auch über ein Geschenk? Ich hielt die Maske fest und nickte. Es war schwierig, mit den dicken Handschuhen die Schleife zwischen die Finger zu bekommen, ich zog an dem Band. Nicht! rief das Mädchen, das ist eine Überraschung, erst, wenn du nach Hause kommst.

Ja, ja, rief ihr kleinerer Bruder. Und der älteste, der bestimmt schon in die zweite oder dritte Klasse ging, fragte: Und wo bist du zu Hause, Weihnachtsmann? Er kicherte sehr über seine Frage, und darüber, dass seine Geschwister wohl noch nicht die Antwort kannten. Ich wiegte meinen Kopf zur Antwort, steckte mir das kleine Päckchen in die Tasche und verabschiedete mich. Auf der Straße riss ich mir die Maske vom Kopf und atmete die kalte Luft. Ringsum waren die Häuser weihnachtlich beleuchtet, es duftete nach gebratenem Fleisch. Der Schweiß in meinem Nacken wurde unangenehm kalt, so dass ich den Mantelkragen hochschlug.

An der Bushaltestelle war die Beleuchtung ausgefallen und ich konnte nur schwer erkennen, wie lange ich warten musste. Da ich meine Handschuhe vergessen hatte, versuchte ich die Hände in den Manteltaschen zu wärmen, indem ich Fäuste ballte und sie in kleinen, schnellen Bewegungen auf und zudrückte. Links fühlte ich das weiche Päckchen, ich bohrte mit dem Finger ein Loch in das Papier und stieß auf etwas Flauschiges. Ich fühlte kurzes, weiches Fell und einen kleinen harten Kopf. An der Spitze saß etwas Kleines, Kaltes, wie eine Perle oder eine Nase, und auch etwas Rundes fühlte ich, das so weich war, wie ein Ohr.

Julia Franck, 1970 in Berlin (Ost) geboren, hat dieses Jahr ihren zweiten Roman "Liebediener" (Dumont) veröffentlicht. Sie hat Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Altamerikanistik studiert. 1995 gewann sie den open mike-Wettbewerb der literaturWERKstatt Berlin. "Man kann ja niemanden zu seinem Glück zwingen, aber wenn man Poesie liebt und Charakter, dann sollte man einfach Julia Franck lesen" (Ingo Schulze).

Julia Franck

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